1783 konnten die Vereinigten Staaten von Amerika den Unabhängigkeitskrieg gegen Großbritannien für sich entscheiden. Das ist lange her. Seitdem sind die USA zu einer Supermacht geworden, scheinbar übermächtig und unbesiegbar. Und zwar nicht nur im militärischen Sinn – auch in Sachen Kultur. Hollywood, Rock’n Roll und Kaugummi – das galt lange als die Heilige Dreifaltigkeit der Coolness. Aber die Briten kamen zurück. Nicht mit Panzern und Armeen. Nein, sie rächten sich viel subtiler.

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Die Beatles stehen noch immer symbolisch für britische Coolness | © picture-alliance/dpa (Foto: picture-alliance/dpa)

Die Beatles stehen noch immer symbolisch für britische Coolness

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Vier Jungs mit komischen Pilzfrisuren nahmen die USA 1964 im Sturm. Dabei lachten sie und sangen "I Want To Hold Your Hand". Die Beatles führten die "British Invasion" an, wie die popkulturelle Heimsuchung der USA durch höchst erfolgreiche Briten damals genannt wurde. Sie hatten dort 20 Nummer-Eins-Hits; im April 1964 besetzten britische Musiker sogar die gesamten Top Five mit ihren Songs. Das ist seitdem keinem anderen Land mehr gelungen. Den Beatles folgten andere Briten, die den US-amerikanischen Kollegen in den Charts das Wasser abgruben – unter anderem The Who, The Rolling Stones und die Yardbirds.

Man nehme dies, man nehme das…

Die "British Invasion" war nur der Beginn von etwas, das weit über eine bloße Modewelle hinausging. Seit den Sixties macht die kleine Insel im Atlantik – die nur etwa so groß ist wie der US-Bundesstaat Kansas – dem "großen Bruder" immer wieder die Vorherrschaft über die Popkultur streitig. Großbritannien brachte eine ungeheure Anzahl von Musikern und Bands hervor, die Musikgeschichte schrieben und auf der ganzen Welt gefeiert werden. Aus Rock’n Roll, Blues, R&B und Skiffle – Musikstilen also, die eindeutig aus den USA stammten – brauten die Briten ihr ganz eigenes Süppchen: Beatmusik, die Brit-Version der amerikanischen Rockmusik.

Dabei machten englische Musiker in den Fifties zunächst nichts anderes als ihre deutschen Kollegen: Sie ahmten nach, was an populären Songs aus den USA rüber schwappte. Ihr Vorteil war, dass sie durch die gemeinsame Sprache näher an den Amerikanern dran waren. Neben Blues und R&B war vor allem Rock’n Roll populär – Hits wie "Rock Around The Clock" von Bill Haley & His Comets; ein Song, der 1955 der Jugendkultur endgültig den Weg ebnete. Schon damals bewiesen die Briten ein feines Gespür für das, was angesagt war. Der Song stieg in Großbritannien vier Monate früher in die Charts ein als in den USA.

A Star was born

Was die Engländer selbst an Rock’n Roll zu bieten hatten, war aber immer noch eine schale Kopie des Originals. Wee Willie Harris zum Beispiel wurde von der Musikindustrie als "Britain’s wild man of rock’n roll" vermarktet, war aber eher für schrille Bühnen-Outfits bekannt als für musikalische Originalität. 1958 sorgte der erste echte britische Star für Schlagzeilen: Cliff Richard erreichte mit "Move It" Platz Zwei der britischen Charts. Aber auch er kopierte übermächtige US-Vorbilder wie Elvis Presley.

Dass sich in Großbritannien in den frühen Sechzigern explosionsartig eine eigenständige Szene ausbreiten konnte, dafür war ausgerechnet ein Musikgenre verantwortlich, das heute nicht mehr mit Pop oder Rock in Verbindung gebracht wird und eher ziemlich uncool wirkt: Skiffle, eine Spielart des Jazz, bei der die Musiker Waschbretter und selbst gebaute Bässe aus Teekisten einsetzen. Diese Musik, die ursprünglich Anfang des 20. Jahrhunderts im Süden der USA entstanden war, entdeckten die Briten nach dem Zweiten Weltkrieg für sich. Eine riesige Amateur-Szene entwickelte sich. Schätzungen zufolge gab es in den späten Fünfzigern zwischen 30.000 und 50.000 Skiffle-Bands, in denen vor allem junge Männer aus der Arbeiterklasse in ihrer Freizeit spielten. Gitarren verkauften sich wie verrückt.

Einige der größten Bands der Welt

In Manchester, Birmingham, Liverpool und London tummelten sich unzählige Bands, die begannen, Rock’n Roll und Blues zu spielen. Allein in Liverpool soll es um 1960 mehr als 350 gegeben haben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Beatmusik entstand, ein Gemisch aus Rock’n Roll, Skiffle, Doo-Wop und R&B. Die Beatles perfektionierten diese Musik und traten dann ihren Siegeszug in die USA und den Rest der Welt an.

New Wave, Synthpop, Britpop, Trip-Hop...


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Der charismatische Sänger Robert Smith von der Band ''The Cure'' | © picture-alliance/dpa (Foto: picture-alliance/dpa)

Der charismatische Sänger Robert Smith von der Band ''The Cure''

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Vor allem in den Sechzigern und Siebzigern dominierten britische Bands und Musiker das Musikgeschehen nach Belieben. Der Amerikaner Jimi Hendrix zog von New York nach London und wurde hier zum Star. Bands wie Led Zeppelin, Fleetwood Mac und Cream machten aus dem amerikanischen Blues harte, laute Rockmusik und ließen mit ihren Konzert-Performances das Publikum auf der ganzen Welt ausrasten. Bands wie Deep Purple und Black Sabbath erfanden den Heavy Metal; Pink Floyd, Genesis und Yes den sogenannten Progressive Rock mit ausufernd langen Kompositionen. David Bowie, Elton John und Queen stolzierten glamrockmäßig über die internationalen Bühnen. Bis Ende der Siebziger der räudige Stiefbruder Punk ins Haus einfiel und sich mit wütend dahingerotzten Songs über dann ganzen Testosteron-getränkten Wahnsinn lustig machte.

Heute dominieren die Briten die Rockmusik-Szene lange nicht mehr so wie damals. Für viele ist Rockmusik ohnehin auf dem absteigenden Ast. Pop und elektronische Musik dominieren. Aber auch hier ist England seit Jahrzehnten ganz vorne mit dabei, erfand ganze Genres wie New Wave, Synthpop, Britpop oder Trip-Hop mit unzähligen berühmten Bands und Künstlern wie The Cure, Duran Duran, Depeche Mode, Pet Shop Boys, Eurythmics, Japan, Portishead, Massive Attack, Oasis, Franz Ferdinand – die Liste ließe sich noch sehr lange fortsetzen. Dazu kommen weltweit beachtete Festivals wie das Isle of Wright Festival und das Glastonbury Festival sowie berühmte Musikschulen wie das LIPA (Liverpool Institute For Performing Arts), das vom Ex-Beatle Paul McCartney mitbegründet wurde.

Am 16. Mai wird England wieder seine Muskeln als musikalische Weltmacht spielen lassen, dann nämlich erscheint "Ghost Stories", die neue Platte von Coldplay, eine der seit Jahren größten britischen Bands. Bei so viel musikalischer Power ist es den Engländern vermutlich einfach egal, dass sie beim Eurovision Song Contest immer mal wieder den letzten Platz belegen.