Wie schon 2011 mit „True Grit“ eröffnen die Brüder Joel und Ethan Coen das Festival und bringen zum Auftakt Hollywood-Prominenz auf den roten Teppich – ganz nach dem Geschmack von Festivaldirektor Dieter Kosslick. Der neue Film heißt „Hail, Caesar!“ und ist eine schwarze Komödie, die in der Welt der großen Studios der 1950er-Jahre angesiedelt ist. George Clooney spielt – wie so oft bei den Coens – einen Idioten, und zwar den begriffsstutzigen Hauptdarsteller eines Hollywood-Sandalenfilms, der zum Erschrecken der Studiobosse während der Dreharbeiten gekidnappt wird.
Clooney kommt zur Premiere im Berlinale-Palast, Tilda Swinton kommt, Josh Brolin kommt, die Coens und noch ein paar weitere US-Stars kommen, und natürlich gibt sich die deutsche Filmbranche die Ehre. Das sollte ein Einstand nach Maß werden, der massenhaft filmbegeisterte Zuschauer anzieht. Eine Filmsatire übers Filmemachen mit smarten Dialogen und einer Menge Filmreferenzen, das ist zu erwarten – aber richtungweisend für das Festival ist dieser Eröffnungsfilm nicht. Im Wettbewerb läuft er eh außer Konkurrenz, denn „Hail, Caesar!“ hat seinen US-Start schon hinter sich.
Die Themen der Berlinale werden andere sein. Das Festival hat sich selbst immer gern als politisch bezeichnet – im Gegensatz zu Cannes, das sich mehr die „reine“ Filmkunst auf die Fahnen schreibt. Berlin hatte seine Skandale, etwa 1970, als das Festival wegen des Vietnamfilms „o.k.“ abgebrochen wurde. Es gab symbolische Gesten wie den leeren Stuhl auf der Bühne für Jafar Panahi, der 2011 nicht aus dem Iran anreisen durfte. Und es haben immer wieder politische Filme den Goldenen Bären gewonnen: „Stammheim“ 1986, „In This World“ 2003, „Tropa de Elite“ 2008, um nur einige zu nennen. Aber in diesem Jahr scheint die politische Wirklichkeit mehr als sonst über das Festival hereingebrochen zu sein. Und natürlich geht es hier vor allem um Flucht und Vertreibung, um Gründe, die Heimat zu verlassen, um Menschen unterwegs und um Versuche, neu anzukommen.
Wie kann man Krisensituationen filmisch darstellen?
Die Berlinale will Flagge zeigen: Allerorten wird zu Spenden aufgerufen, Geflüchtete kommen vergünstigt ins Kino, und es wurden „Patenschaften für Kinobesuche“ eingerichtet. Aber vor allem werden sich eine Menge Filme mit Flucht und Migration beschäftigen, und zwar in fast allen Sektionen: Im Wettbewerb untersucht der Italienier Gianfranco Rosi mit „Fuoccoamare – Fire At Sea“ die Parallelwelten auf Lampedusa, im Forum reflektiert der Essayfilmer Philip Scheffner über Handyaufnahmen eines Flüchtlingsboots („Havarie“), der syrisch-armenische Regisseur Avo Kaprealian filmt in Aleppo vom Balkon aus („Houses without Doors“), und in der Sektion Generation zeigt „Life on the Border“, wie Flüchtlingskinder ihren Alltag in den Notunterkünften von Kobanê und Şingal selbst gefilmt haben. Schon an diesen wenigen Beispielen merkt man: Es geht auch sehr stark um filmische Strategien, um Fragen der Darstellbarkeit dieser Krisensituationen.
Im Wettbewerb fehlen die ganz großen Namen des Autorenkinos, Highlights gibt es dennoch im Programm: Der viel gelobte philippinische Regisseur Lav Diaz zeigt seinen achtstündigen Film „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“, ein Schwarz-Weiß-Epos über die Kolonialgeschichte seines Landes. Fast den ganzen Tag werden wir von fluter.de hier im selben Kino sitzen – und live tickern, was die filmische Reise mit sich bringt ... Überhaupt sind wieder alle Kontinente im Wettbewerb vertreten und ein wilder Mix an Themen: Krieg auf der arabischen Halbinsel, Kolonialkonflikte, Zwangsverheiratungen, Cyberwar, Liebesprobleme in der Midlife-Crisis ...
Eine runde Sache ist dagegen die diesjährige Retrospektive: Den 66. Jahrgang des Festivals widmen Kuratoren um Rainer Rother dem deutschen Filmjahrgang des Jahres 1966 in Ost und West. Während in Westdeutschland der Aufbruch der jungen Filmemacher um Alexander Kluge, Edgar Reitz und Volker Schlöndorff begann, wurden in der DDR in diesem Jahr fast ein Dutzend Filme verboten oder stark zensiert – die Hoffnung auf eine liberalere Kulturpolitik war damit hinfällig. Die Gegenüberstellung der Filme dieses bedeutsamen Jahres könnte spannende Erkenntnisse hervorbringen – über das Land auf beiden Seiten der Mauer, aber auch über die filmischen Innovationen der Filmemacher in Ost und West.
Mit der Hommage wird in diesem Jahr der Kameramann Michael Ballhaus geehrt, der für seine Arbeiten mit Rainer Werner Fassbinder und später in Hollywood mit Martin Scorsese bekannt geworden ist. Auch hier lässt sich deutsche Filmgeschichte nachvollziehen.
Haltung oder Unterhaltung?
435 Filme laufen dieses Jahr auf der Berlinale. Und wie immer gibt es mindestens genauso viele Debatten um das Festival: Geht es zu viel um die Stars? Und zu wenig um ästhetisch wirklich wichtige Filme? Sind die deutschen Filme ausreichend vertreten? Sind genug Filme von Frauen dabei? Und von Minderheiten? Hat das Programm zu wenig Haltung und zu viel Unterhaltung? Und dieses Jahr besonders wichtig: Was taugen die politischen Filme? Helfen sie uns, die Welt zu verstehen, oder illustrieren sie bloß die aktuelle Nachrichtenlage?
Kurz: Es gibt bei der Berlinale viel zu sehen – und noch mehr zu diskutieren. Auf fluter.de bleiben wir dran an diesen Debatten. Jeden Tag bloggen wir von der Berlinale über die Filme im Programm, große und kleine Aufreger und was sonst zwischen Kinosaal und rotem Teppich so abgeht. Außerdem blicken wir hinter die Kulissen: Wir begleiten einen jungen Regisseur aus Brasilien mit der Kamera durch das Talents-Programm. Mit einer interaktiven Grafik erklären wir euch den Weg ins Filmgeschäft. Und natürlich besprechen wir eine Menge Filme für euch. Licht aus, Vorhang auf.
Foto: Jan Brandes