1. WO LIEGEN DIE WURZELN DES BEGRIFFS SOLIDARITÄT?

Am Anfang war das Geld. Oder genauer: fehlendes Geld. Der Ursprung des Wortes Solidarität liegt im Schuldrecht. Wer im Römischen Reich über seine Verhältnisse lebte, konnte sich zumindest theoretisch auf die Hilfe der anderen verlassen. Dafür sorgte ein Passus im römischen Recht, die „obligatio in solidum“. Danach musste jedes Familienmitglied für die Gesamtheit der Schulden aufkommen – und umgekehrt ebenso die Gemeinschaft für die Schulden des Einzelnen. Erst Ende des 18. Jahrhunderts wurde diese Rechtsfigur auf Politik, Gesellschaft und Moral übertragen.


2. WAS BEDEUTET SOLIDARITÄT?

Wer mit Freunden über Solidarität spricht, meint damit umgangssprachlich den Zusammenhalt oder das Eintreten für gleiche Interessen. Der französische Soziologe Emile Durk-heim (1858–1917) beschreibt Solidarität als Zement, der die Gesellschaft zusammenhält. Heute sprechen Soziologen von Solidarität, wenn es sich um einen freiwilligen Akt symbolischer oder materieller Hilfe handelt. Man ist solidarisch mit denen, die für ihr Recht kämpfen müssen. Gleichzeitig gehen die Helfer unterschwellig davon aus, dass ihnen im umgekehrten Fall auch geholfen würde. „Erwartung potenzieller Gegenseitigkeit“ nennen das die Wissenschaftler.


3. WO FÄNGT SOLIDARITÄT AN; WO HÖRT SIE AUF?

Ein Kind bietet einer alten Frau im Bus seinen Sitzplatz an. Ist das Solidarität? Nein, sagen Solidaritätsforscher. Die nette Geste des Jungen ist pure Höflichkeit und lässt zwar auf eine gute Kinderstube, nicht aber zwingend auf ein Gespür für Solidarität schließen. Und die Spende zur Weihnachtszeit? Hier zeigt sich eine neue Form der Solidarität. Denn wer spendet, tut dies aus einer Position der Überlegenheit heraus. Er kennt den Empfänger meist nicht persönlich – und rechnet deshalb nicht mit einer Gegenleistung. Dies steht im Gegensatz zu früheren Vorstellungen von Solidarität.


4. WARUM WURDE sOLIDARITÄT IM 19. JAHRUNDERT WICHTIG?

Bis Ende des 18. Jahrhunderts war Deutschland eine Agrargesellschaft, die meisten Menschen lebten auf dem Land. Mit der Industri-alisierung änderte sich das. Bauern verkauften ihr unrentables Land und zogen massenhaft in die neu gegründeten Industriestädte. Konn-ten sich die Bauern in der „Jeder kennt jeden“-Welt der Dörfer noch auf den Zusammenhalt der Gemeinschaft verlassen, mussten sie sich in der Stadt allein durchschlagen – entwurzelt, anonym und arm. In diesem tristen Umfeld begannen sich Arbeiter und Bauern zu solida-risieren. Sie hatten die gleichen Probleme und Ziele, also konnten sie auch gemeinsam für ihre Forderungen nach Mindestlohn, Arbeitsschutz und Fünftagewoche kämpfen: „Vorwärts und nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht! Beim Hungern und beim Essen, vorwärts und nie vergessen: die Solidarität!“ (Aus dem Solidaritätslied von Bert Brecht und Hanns Eisler.)


5. WER HAT DIE SOZIALVERSICHERUNG EINGEFÜHRT?

Es war Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898), der die Sozialgesetze verabschiedete. Damit setzte er bis heute gültige Maßstäbe beim Aufbau eines staatlichen Sozialsystems. Unfall-, Kranken- und Altersversicherung sollten nicht nur die Not lindern. Sie zielten auch darauf ab, Arbeiter von der SPD abzubringen und für die Monarchie zu gewinnen. Mit den Sozialgesetzen wurde ein Modell geschaffen, das von vielen Ländern übernommen wurde.


6. WARUM SPRECHEN POLITIKER SO OFT VON SOLIDARITÄT?

Auf der politischen Bühne erscheint der Solidaritätsbegriff Anfang des 19. Jahrhunderts. Er ersetzt die im Nachklang der Französi-schen Revolution berühmt gewordene Losung der Brüderlichkeit (fraternité). Doch diese klammerte natürlich den Zusammenhalt unter Frauen aus. Heute fordern Politiker und Parteiprogramme Solidarität aus verschiedenen Gründen – meist, um die Menschen auf zukünftige Belastungen vorzubereiten. Das beste Beispiel: Es gibt ein Gesetz, das die Forderung nach Solidarität gleich im Namen trägt. Das „Solidaritätszuschlagsgesetz“ wurde 1991 ein-geführt, um im Zuge der Wiedervereinigung den Wiederaufbau der neuen Bundesländer mitzufinanzieren. 


7. WAS HAT DIE SOLIDARITÄT MIT DER WENDE IN POLEN ZU TUN?

Happige Preiserhöhungen, Versorgungsengpässe und staatliche Willkür – so sah der Alltag im Polen der Siebzigerjahre aus. Das wollten sich die Arbeiter 1980 nicht mehr bieten lassen: Sie streikten. Aus dieser Bewegung entstand die Solidarno´s´c (deutsch: Solidarität). Die Gewerkschaft und ihr Vorsitzender Lech Walesa gewannen schnell an Popularität. Zehn Millionen Anhänger hatte Solidarno´s´c damals. Zu viel für die kommunistische Regierung: 1982 wurde Solidarno´s´c verboten. Als Untergrundbewegung war sie aber weiter aktiv und wirkte maßgeblich an der politischen Wende 1989 mit. Ihr Vorsitzender Lech Walesa wurde 1990 zum Staatspräsidenten Polens gewählt. Heute spielt Solidarno´s´c in der Politik keine Rolle mehr. Als Gewerkschaft ist sie weiter aktiv, hat aber an Glanz verloren: Unter den 38 Millionen Polen finden sich nur noch etwa 800 000 Solidarno´s´c-Mitglieder. Friedensnobelpreisträger Lech Walesa trat 2005 aus. 

Wir bedanken uns bei Professor Kurt Bayertz für die Recherchetipps. Bayertz lehrt praktische Philosophie an der Universität Münster.