cms-image-000043932.jpg

cms-image-000043932.jpg (Foto: Praxis Films)
(Foto: Praxis Films)

Die amerikanische Dokumentarfilmerin Laura Poitras beschreibt es als komisches Gefühl, plötzlich im Rampenlicht zu stehen. Gewöhnlich befindet sie sich hinter der Kamera. Diskretion ist ein Charakteristikum ihrer Arbeitsweise, die sie in der Tradition von Dokumentarfilmern wie Robert Flaherty oder Richard Leacock als „vérité“ bezeichnet. Poitras tritt in ihren Filmen niemals in Erscheinung, sie fungiert stets als unsichtbare Beobachterin und beschreibt geopolitische Verschiebungen anhand individueller Erfahrungen. Das war so in „My Country, My Country“ aus dem Jahr 2006, einem Film über die ersten freien Wahlen im Irak, der ihr eine Oscar-Nominierung einbrachte. Und vier Jahre später auch in „The Oath“, der mit seinen sich überschneidenden Geschichten eines ehemaligen Bodyguards von Osama Bin Laden und dessen in den USA als Terrorist angeklagten Schwagers ein Lehrstück über die amerikanische Rechtsauffassung nach 9/11 ist.

So einfach ist das mit der Diskretion für Laura Poitras mit ihrem neuen Film „Citizenfour“ nicht mehr. Hier ist sie Teil der Geschichte, die für sie im Januar 2013 begann, als sie von einem Unbekannten via E-Mail kontaktiert wurde. Citizenfour, wie sich die Person nannte, fragte Poitras, ob sie ihren E-Mail-Verkehr verschlüssele. Er arbeite als IT-Experte für den amerikanischen Geheimdienst und sei im Besitz vertraulicher Informationen, die ihn und sie möglicherweise in Gefahr bringen würden.

Poitras reagierte zunächst misstrauisch, aber ein Satz des unbekannten Absenders gab ihr zu denken. Sie müsse sich vorstellen, dass der Gegner über technische Möglichkeiten verfüge, eine Billion Suchanfragen pro Sekunde zu senden, um ihre Identität zu entschlüsseln. Auf die Frage, warum er ausgerechnet ihr diese Informationen überlassen wolle, entgegnete Citizenfour kryptisch: „Ich habe sie nicht gefunden. Sie wurden ausgewählt.“

Unter Beobachtung durch die amerikanische Regierung

Laura Poitras stand wegen ihrer Filme zum damaligen Zeitpunkt bereits unter Beobachtung durch die amerikanische Regierung. Auf Flughäfen musste sie sich regelmäßig langwierigen Kontrollen und Verhören unterziehen. Als Citizenfour sich bei ihr meldete, recherchierte Poitras gerade für einen Dokumentarfilm über die Ausweitung der Abhörmaßnahmen durch die US-Geheimdienste im Zuge des Heimatschutz-Programms. Doch was der Unbekannte ihr dann zeigte, sollte ihre schlimmsten Vermutungen übertreffen.

Heute ist der Mann, der sich hinter dem Decknamen Citizenfour verbarg, weltbekannt. Es handelt sich um Edward Snowden. Am 5. Juni 2013 veröffentlichte Snowden in Zusammenarbeit mit den „Guardian“-Journalisten Glenn Greenwald und Ewen MacAskill Dokumente über das geheime PRISM-Programm, das der amerikanischen Regierung ermöglichte, auf die persönlichen Daten von Privatkunden aller großen Telekommunikationsunternehmen zuzugreifen, die einen Anschluss in den USA hatten. Vier Tage später gab sich Edward Snowden von einem Hotelzimmer in Hongkong aus zu erkennen. Anwesend war neben dem Journalisten Glenn Greenwald auch Laura Poitras. Die Aufnahmen während dieses achttägigen konspirativen Treffens sind das Herzstück von „Citizenfour“.

Einige Kritiker warfen Poitras vor, dass sie als unabhängige Journalistin zu sehr in die Geschichte Snowdens verstrickt sei. Aber ist es überhaupt möglich, eine neutrale Position zu beziehen, wenn die Persönlichkeits- und Bürgerrechte jedes Einzelnen auf dem Spiel stehen? Ähnlich wie Edward Snowden betont Laura Poitras in Interviews immer wieder, dass es nicht um ihre Person gehe, sondern um die illegalen Aktivitäten der Geheimdienste. Sie selbst stand ja jahrelang auf der Watchlist der US-Regierung. Darum zog sie Ende 2012 schließlich – wie so viele Kritiker der US-Politik, etwa der amerikanische Internet-Aktivist Jacob Appelbaum oder die britische Menschenrechtlerin Sarah Harrison – nach Berlin. Hier vollendete sie, mit der Hilfe der Tom-Tykwer-Cutterin Mathilde Bonnefoy, ihren Film über Edward Snowden.

cms-image-000043936.jpg

cms-image-000043936.jpg (Foto: Praxis Films)
(Foto: Praxis Films)

„Citizenfour“ funktioniert, obwohl die Chronologie der Ereignisse hinlänglich bekannt ist, als enorm spannender Techno-Thriller: mit ständigen Ortswechseln, Datumseinblendungen, Dokumentar- und Nachrichtenbildern, poetischen Verdichtungen und einem pulsierenden Soundtrack von Trent Reznor. Er stellt aber vor allem, in einer Trilogie mit „My Country, My Country“ und „The Oath“, ein wichtiges Zeitdokument der US-Außenpolitik seit den Anschlägen auf das World Trade Center dar. Die Aufnahmen aus dem Hongkonger Hotelzimmer vermitteln in Echtzeit einen Eindruck von dem Stress, der auf Snowden, Greenwald und Poitras lastete. Eines Tages könnten sie als historische Zeugnisse eine ähnliche Bedeutung erlangen wie das berühmte Zapruder-Video, das die Ermordung von John F. Kennedy zeigt.

Denn das globale Ausmaß der Enthüllung bedeutet zweifellos eine gesellschaftliche und politische Zäsur. Gesellschaftlich, weil die Menschen der Bequemlichkeit und Allgegenwart des Internets seit Edward Snowden skeptischer gegenüberstehen. Politisch, weil seine Enthüllungen das Vertrauen in demokratisch gewählte Regierungen, die die Überwachung ihrer Bürger in Kauf nehmen, nachhaltig erschüttert haben.

Das konspirative Treffen in Hongkong ist der Urmoment dieser neuen Zeitrechnung. Er beinhaltet ein ganzes Spektrum an Gefühlen und Reaktionen, im globalen wie im privaten Zusammenhang: vom ungläubigen Staunen der Reporter angesichts der ungeheuerlichen Enthüllungen bis zur realistischen Erkenntnis Snowdens, dass es für ihn und die Menschen, die ihm nahestehen, keinen Weg zurück geben wird. In Poitras’ Kamera erklärt er, dass die Einschränkung seiner intellektuellen Freiheit schwerer wiege als eine mögliche Gefängnisstrafe.

Das klingt heldenhaft, ist aber nicht so gemeint. Edward Snowden handelte lediglich als mündiger Bürger. Daher auch der Name: Citizenfour.