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Vater, Mutter, Schwester, Hund, Verschwörung

Was macht es mit einer Familie, wenn sie eines ihrer Mitglieder an Verschwörungserzählungen verliert? Die Comiczeichnerin Ika Sperling hat das selbst erlebt und in ihrer Graphic Novel „Der Große Reset“ verarbeitet

  • 5 Min.
Der grosse Reset

Worum geht’s?

Studentin Ika besucht über das Wochenende ihre Familie. Die lebt in einem kleinen Dorf in einem Weinanbaugebiet und besteht aus Vater, Mutter, Schwester und Hund. Schon beim Wiedersehen wird klar, dass es keine unbeschwerte Zeit für Ika wird: Am Küchentisch erzählt ihr Vater, dass er seinen Job gekündigt hat, sich scheiden lassen, das Haus verkaufen und auswandern will. Er denkt, dass Deutschland kurz vor einem Bürgerkrieg stehe, weil immer mehr Menschen die „Zustände“ im Land nicht mehr hinnehmen wollten. So seien die Corona-Pandemie, der Ukrainekrieg und die Inflation angeblich von der Regierung geplant worden, um das Volk zu entmachten und unter dem Deckmantel des Klimaschutzes eine Ökodiktatur zu errichten. Die Medien würden mithelfen, dies zu vertuschen. Erfahren hat Ikas Vater das aus YouTube-Videos.

Worum geht’s wirklich?

Um eine Familie, die zu zerreißen droht, weil eines ihrer Mitglieder an Verschwörungserzählungen glaubt. Während Ikas Mutter die Auswanderungspläne ihres Mannes vor ihren Töchtern herunterspielt, weicht sie einem klärenden Gespräch mit ihrem Mann aus. Ikas Schwester Bella reagiert gereizt, wenn man sie auf die familiäre Situation anspricht. Es belastet sie, dass wegen ihres Vaters im Dorf ständig über sie getuschelt wird. Ika hingegen geht offen mit ihren Ängsten um. Sie widerspricht ihrem Vater und ist besorgt, weil er sein altes Leben aufgeben und die Familie verlassen will. Und das nur, wie es einmal in einem Gespräch mit ihrem Vater aus ihr herausbricht, „wegen IRGENDWAS, was IRGENDJEMAND IRGENDWO im INTERNET gesagt hat!“.

„Der Große Reset“ ist, wie Sperling in einem Verlagsinterview erklärt, grob an ihre realen Erfahrungen mit ihrem Vater angelehnt. Sie habe zeigen wollen, wie die Ausnahmesituation der Pandemie, gepaart mit fehlenden sozialen Kontakten und mehr Zeit vor YouTube oder Telegram zu gesellschaftlicher Entfremdung geführt haben – und wie davon manchmal sogar das engste Umfeld betroffen ist.

Gut zu wissen:

Ursprünglich bezeichnete der Begriff „The Great Reset“ („Der große Neustart“) eine Initiative des Weltwirtschaftsforums mit dem Ziel, die Wirtschaft und Gesellschaft nach der Corona-Pandemie weltweit nachhaltiger und gerechter zu gestalten. Verschwörungsgläubige verwenden den Ausdruck für angebliche Pläne einer politischen und finanziellen „Elite“, die die Gesellschaft zu ihren Gunsten neu ordnen will.

Wie ist es erzählt?

Einfühlsam und realistisch. Sperlings Figuren sprechen Alltagssprache, streiten sich, lachen aber auch miteinander. Das macht die Momente, in denen klar wird, wie sehr die Familie sich wegen des Vaters voneinander entfernt hat, umso trauriger. Auch auf der Bildebene hat die Künstlerin ein gutes Mittel gefunden, diese Entfremdung auszudrücken. So zeichnet sie ihren Vater nicht wie die anderen Figuren als Mensch, sondern als Blase in Menschenform. Diese Blase ist mit einer Flüssigkeit gefüllt, die manchmal ausläuft und Ika und ihrer Mutter die Schuhe durchnässt. Das mag im ersten Moment witzig klingen, wirkt aber eher tragisch, weil es zeigt, wie schädlich die Pläne des Vaters für den Rest der Familie sind.

Eigenen Angaben zufolge wollte Ika Sperling sich nicht über Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, lustig machen, gleichzeitig wollte sie deren Ansichten aber auch keine Bühne bieten. Deshalb sieht man Ikas Vater in der Graphic Novel etwa beim Reden über die angebliche Verschwörung hinter einer verregneten Autoscheibe. Die Regentropfen verdecken seine Worte. Zur Wasserthematik, die sich durch die Graphic Novel zieht, passt auch, dass Sperling ihren Comic in Aquarellfarben koloriert hat.

Lohnt sich das?

Auf jeden Fall. „Der Große Reset“ hinterlässt wohl deshalb ein so bedrückendes Gefühl, weil er etwas schildert, das jedem passieren könnte oder vielleicht sogar schon passiert ist: Ein geliebter Mensch verändert sich und ist dadurch für seine Angehörigen nicht mehr erreichbar. Ika Sperling bietet keine versöhnliche Antwort auf dieses Dilemma an, sie habe keinen wissenschaftlichen Ratgeber für Angehörige von Verschwörungsgläubigen, sondern einen persönlichen Erfahrungsbericht schaffen wollen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen zeigen die Familienmitglieder nur zwei ähnlich ernüchternde Wege, mit der Situation umzugehen: Entweder meiden sie jedes politisch aufgeladene Thema, oder sie brechen den Kontakt zum Vater ab.

Ideal für …

… alle, die einen großen gesellschaftlichen Konflikt gern unterhaltsam und gefühlvoll im Kleinen dargestellt sehen möchten und sich mehr für komplexe Beziehungen als für eindeutige Ursachen und Lösungen interessieren. So bleibt zum Beispiel offen, warum Ikas Vater überhaupt anfällig für Verschwörungserzählungen geworden ist. Vielleicht liegt das auch daran, dass die Beweggründe ihrer Anhänger:innen für Angehörige wie Ika manchmal nur schwer nachzuvollziehen sind. 

„Der große Reset“ von Ika Sperling erscheint am 4. Mai im Reprodukt-Verlag.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.