Das Jahr 1960 ging als „afrikanisches Jahr“ in die Geschichte ein, 17 neue, souveräne afrikanische Staaten sagten sich damals von den europäischen Kolonialmächten los und feierten ihre Unabhängigkeit als wichtigen Schritt zu einer neuen afrikanischen Identität: ein Schlussstrich unter zum Teil Hunderte von Jahren Ausbeutung.

Der in den 1920ern im französischen Überseedepartement Martinique aufgewachsene Schriftsteller und Psychiater Frantz Fanon gehörte früh zu den mahnenden Stimmen. Fanon hatte bei seiner Arbeit in Algerien und Tunesien die Auswüchse des Kolonialismus aus erster Hand erlebt. Seine Patienten litten unter der kolonialen Erfahrung, dass sie im Alltag oft entrechtet und erniedrigt wurden. Das hatte in der Psyche vieler Afrikaner und Afrikanerinnen dauerhafte Verletzungen hinterlassen. „Kolonialismus“, schrieb Fanon 1961, ein Jahr nach der historischen Zäsur, in seinem Schlüsselwerk „Die Verdammten dieser Erde“, „ist Gewalt im Naturzustand.“ Das Buch liefert bis heute eine der fundiertesten Beschreibungen des Kolonialismus und seiner psychologischen und ökonomischen Kontrollmechanismen. Wie sehr er mit seiner Analyse ins Schwarze traf, sollte Fanon nicht mehr erleben. Er starb im Dezember 1961 im Alter von 36 Jahren an Leukämie.

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cms-image-000043634.jpg (Foto: Lennart Malmer)
(Foto: Lennart Malmer)

Fanons Text ist das theoretische Rückgrat von Göran Hugo Olssons Filmessay „Concerning Violence – Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defense“. Fugees-Sängerin Lauryn Hill, selbst eine engagierte Bürgerrechtsaktivistin, trägt ihn aus dem Off vor. Der Film besteht aus neun Kapiteln: Reportagen, Interviews und Augenzeugenberichten, entdeckt in schwedischen Fernseharchiven, aufgenommen von schwedischen Dokumentarfilmern und Fernsehjournalisten zwischen 1966 und 1984 in Afrika. „Dekolonisation ist stets ein gewalttätiges Phänomen“, hatte Fanon in „Die Verdammten dieser Erde“ geschrieben. Die Archivbilder veranschaulichen Fanons Thesen des „antiimperialistischen Befreiungskampfes“.

In der ersten „Szene“ berichtet der Journalist Gaetano Pagano über seinen Kontakt mit der angolesischen „Volksbewegung zur Befreiung Angolas“ MPLA im Grenzgebiet von Cabinda, einer der ölreichsten Regionen Afrikas. Die Rebellen, die gegen die portugiesische Kolonialmacht kämpfen, geraten vor laufender Kamera in ein Feuergefecht mit Regierungstruppen. Am nächsten Morgen kehren sie triumphierend zu ihrem Stützpunkt zurück. Die Aufnahmen stammen aus dem Jahr 1974, ein Jahr später ruft die MPLA die Unabhängigkeit Angolas aus. Die Szenen zeigen: Fanons politische und gesellschaftliche Analyse hatte auch knapp 15 Jahre nach der ersten großen Unabhängigkeitswelle nichts von ihrer Brisanz verloren.

Posthum ist Fanon von Zeitgenossen für seinen militanten Tonfall, eine Abkehr von seiner pazifistischen Vergangenheit, kritisiert worden. Gewalt war als Mittel durchaus umstritten im Rahmen der Dekolonisation. „Concerning Violence“ stellt dem abstrakten Gewaltbegriff des Psychiaters und Schriftstellers Bilder einer konkreten Gewalterfahrung gegenüber.

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cms-image-000043633.jpg (Foto: Lennart Malmer)
(Foto: Lennart Malmer)

An manchen Stellen illustriert das found footage lediglich den eingesprochenen Text. In den besten Momenten aber entsteht im Zusammenwirken von Worten und Bildern eine höhere Ebene des Verstehens, etwa wenn in einem Bericht über den Streik liberianischer Arbeiter in einer schwedisch-amerikanischen Mine ein liberianischer Kommandant wie selbstverständlich erklärt, mit welchen drastischen Maßnahmen er im Auftrag des ausländischen Konzerns gegen die Streikenden vorging.

Das Verhältnis von Kolonialherren und Kolonialisierten sei per se durch Gewalt definiert, schreibt Fanon. Diese Gewalt breche sich über kurz oder lang auch innerhalb einer unterdrückten Gemeinschaft Bahn, als Ventil für einen Minderwertigkeitskomplex. Auf dieser destruktiven Dynamik beruhe das Herrschaftsprinzip der Kolonialmacht. Die Gewalt, die Fanon fordert und „Concerning Violence“ in vielen Facetten beschreibt, ist ein letztes Mittel, eine verzweifelte Reaktion auf die sozialen Verhältnisse.

„Concerning Violence“ ist aber nicht nur ein eindrucksvolles Zeitdokument. Wie schon in seiner preisgekrönten Dokumentation „Black Power Mixtape 1967–1975“ über die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung geht es Göran Hugo Olsson in erster Linie darum, noch einmal diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die den Unabhängigkeitskampf geführt haben. Sein filmisches Essay übernimmt gewissermaßen die Funktion einer späten Ermächtigung. Besonders deutlich wird dieses Motiv in einem Interview mit dem burkinischen Staatschef Thomas Sankara aus dem Jahr 1987, der für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den ehemaligen Kolonialmächten plädiert, um auch wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Westen zu erlangen. Fünf Monate nach dem Interview wurde Sankara bei einem Militärputsch ermordet. Sein Nachfolger Blaise Compaoré fand politische Unterstützung in den USA und Frankreich.