Mit 14 Jahren hat Brian* ganz genaue Berufsvorstellungen: Er will Cannabishändler werden. Die Schule findet er anstrengend und uninteressant. Die 7. Klasse einer Gesamtschule hat er wiederholt. Auch danach stehen im Zeugnis vorwiegend Fünfen und Sechsen. Nach der 9. Klasse geht er ab – ohne Abschluss – und tut das, was er besser kann als Mathe, Physik oder Deutsch: Er dealt. Anfangs sind es Tütchen mit wenigen Gramm Cannabis, bald werden es Tüten mit 100 Gramm, schließlich Kartons mit mehreren Kilogramm. Sein Leben erscheint ihm aufregend und interessant, er verdient viel Geld. Finanzielle Sicherheit, etwas auf der hohen Kante für Notfälle, ist ihm wichtig. Seiner Mutter und seiner Schwester erzählt er, dass er als Fahrer für einen Paketdienst arbeitet. Und Brian weiß mit 15 Jahren eine zweite Sache ganz genau: „Irgendwann komme ich ins Gefängnis.“ Inzwischen ist er 27 Jahre alt, und er sitzt, wie er befürchtet hat, im Gefängnis. Erst erwischte ihn die Polizei mit einem gefälschten Führerschein und einem gefälschten Ausweis. Dann flog der Drogenhandel durch die Observierung eines seiner Kunden auf. Seit Dezember 2007 sitzt er zwei Haftstrafen ab.
Das Recht auf Bildung ist ein Grundrecht, auch im Gefängnis. Brian nimmt es hinter einer 1.465 Meter langen Mauer, Wachtürmen und Stacheldraht in Anspruch. In der mit Eisentüren und roten Alarmlampen ausgestatteten Gefängnisschule können Gefangene Alphabetisierungskurse belegen, den Haupt- oder Realschulabschluss nachholen, das Abitur machen oder ein Fernstudium. Derzeit werden hier etwa 85 Schüler in verschiedenen Kursen betreut. Brians „High-Gefühl“ ist jetzt keine Bewusstseins-, sondern eine Horizonterweiterung. So wie er beim Drogenhandel wissen wollte, wie weit er es bringen kann, will er jetzt beim Lernen herausfinden, was geht. Er hat bereits den Realschulabschluss und bereitet sich auf das Abitur vor. Brian ist ein freundlicher, schmaler junger Mann mit kurzen, dunklen Haaren und graugrünen Augen. Unter dem schwarzen T-Shirt trägt er eine dünne Goldkette, am Ringfinger der linken Hand einen silbernen Ring – Erinnerungen an seine letzte Beziehung. Er sitzt in dem Raum für die Fernstudenten der Anstalt und versucht zu erklären, warum er im Gefängnis freiwillig das tut, wozu ihn früher niemand bewegen konnte. „Ich habe sehr oft versucht zu analysieren, warum mir das Lernen jetzt Spaß macht“, sagt er. Eine Antwort hat er noch nicht gefunden. „Nur am Gefängnis kann es nicht liegen“, ist er überzeugt. „Ich hatte schon vor, was fürs Köpfchen zu tun. Die Verurteilung hat das sicher beschleunigt.“
Graue Zellen anstatt das Grauen der Zelle
Die Sprüche, mit denen die Fernschule wirbt, an der Brian das Abitur macht, klingen für jemanden im Gefängnis absurd. „Sie erhalten alle benötigten Studienunterlagen – bequem ins Haus.“ Oder: „Sie lernen immer dann, wenn Sie Zeit haben, und dort, wo es Ihnen Spaß bringt: abends auf dem Sofa, am Wochenende im Grünen etc.“ Ein Werbespruch des Instituts jedoch passt: „Sie selbst bestimmen, wann und wo Sie lernen.“ Bei ihm heißt das: allein in der Zelle, ohne Internet und Austausch mit anderen Schülern, motiviert nur durch sich selbst. Er ist einer von nur vier Gefangenen in seinem Gefängnis, die derzeit das Reifezeugnis ablegen. „Er ist ein Idealfall“, sagt Lars Hoffmann, der Pressesprecher der JVA, über ihn. „Wir freuen uns über jeden Gefangenen, der die Chance wahrnimmt. Das ist keine Selbstverständlichkeit.“ Der Großteil der Gefangenen hat entweder kein Interesse, keine Selbstdisziplin oder keine ausreichenden Deutschkenntnisse. „Man meint“, sagt Hoffmann weiter, „man habe im Gefängnis genug Zeit. Aber so ein Fernstudium bedarf eines festen Willens und der Selbstdisziplin.“
6 Uhr aufstehen, waschen, Gymnastik, Frühstück, lernen in der Zelle. So fängt Brians Tag an. Weil es am Nachmittag im Zellenblock sehr laut ist, spielt er Tischtennis oder geht duschen und lernt nach dem Zelleneinschluss um 21.30 Uhr weiter, nicht selten bis morgens um 3, auch samstags und sonntags. „Sonst ist das nicht zu schaffen.“ Vierteljährlich bekommt Brian Unterrichtsmaterialien geschickt, jeden Monat muss er eine Hausarbeit abgeben, alle sechs Monate wird er geprüft. Hat er Fragen, schickt er einen Brief an seinen betreuenden Lehrer und wartet in der Regel zwei Wochen auf Antwort. Manchmal nutzt er den Besuch eines Freundes oder seiner zehn Jahre jüngeren Schwester, die zeitgleich mit ihm das Abitur angefangen hat, um Antworten auf drängende Fragen zu bekommen. Im Moment beschäftigt er sich in Chemie mit dem Massenwirkungsgesetz, in Deutsch mit Stilmitteln und in Mathematik mit Potenzfunktionen.
Macht ein Gefangener eine Fortbildung, wird er so behandelt, als würde er arbeiten. Brian bekommt 250 Euro und zahlt davon die 109 Euro Kursgebühr pro Monat. Als würde er sich selbst noch nicht ganz über den Weg trauen, sagt er Sätze, die wie aus einem Resozialisierungsbuch von Strafgefangenen klingen: „Mir hat das Lernen viel gegeben.“ „Bildung ist sehr wertvoll, um Kriminalität entgegenzuwirken.“ In wenigen Monaten, im Januar 2013, wird er entlassen. Das Abitur will er in Freiheit „definitiv“ zu Ende machen. Er fände es „supergeil“, danach etwas zu studieren, was mit „umweltfreundlicher Optimierung von Firmen“ zu tun hat. Finanzielle Sicherheit ist ihm noch immer wichtig, zumal er möglichst bald gern eine eigene Familie hätte. Er kann sich jetzt durchaus vorstellen, mit einem legalen Job ans Ziel zu kommen.
*Name von der Redaktion geändert