Sich von seinen Träumen leiten lassen – wo kämen wir denn da hin? Folgt man dem US-amerikanischen Schriftsteller und Philosophen Henry D. Thoreau, ist die Antwort klar: zum Glück. Wer „das Leben zu leben sucht, das ihm vorschwebt, dem ist ein Erfolg beschieden, wie er ihn gemeinhin nicht gewärtigt“, schreibt er. Thoreau wollte „den Mondschein zwischen den Bergen sehen“, statt „unter Deck“ zu leben, er wollte die Gesetze des Lebens und des Weltalls verstehen – und fand die Antworten in der Natur. In einer Hütte am Walden-See in den Wäldern von Massachusetts, in der er zwei Jahre verbrachte. Dafür aber musste er sein Leben radikal vereinfachen.
Insofern ist „Walden oder Leben in den Wäldern“, 1854 erschienen und heute Thoreaus bekanntestes Werk, weit mehr als nur ein Ökoklassiker oder ein Buch für Aussteiger, als das es oft gelesen wird. Es ist zugleich eine profunde Kritik am Kapitalismus in der Blütezeit der Industrialisierung. Nur wenige Jahre später begann Karl Marx mit seinem „Kapital“.
Doch anders als bei Marx ist es bei Thoreau weniger das System, sondern eine den einzelnen Menschen selbst treibende Kraft, die ihn erdrückt. Und seine Kritik gilt der Arbeit selbst: „Ihr macht Euch krank, damit Ihr etwas für Eure kranken Tage zusammenspart.“ Dabei wirft Thoreau sogar die Idee einer Art bedingungslosen Grundeinkommens in den Raum. Bevor man sich ein Urteil über einen Menschen erlaubt, schlägt Thoreau vor, sollte man ihn eine Zeitlang unentgeltlich ernähren und kleiden.
Henry D. Thoreaus Blick ist jedenfalls einer aufs Individuum. Das mag daran liegen, dass er Amerikaner ist, also aufgewachsen ist mit dem Denken, dass jeder selbst für sein Glück verantwortlich sei. Glücklich aber scheinen ihm seine Zeitgenossen nicht. Was er sieht, ist: Jeder ist sein eigener Sklaventreiber und zugleich Sklave der Meinung, die er von sich hat. Alles ist ein einziger Wettbewerb, immer schöner, reicher, beliebter sein als andere. Das klingt nach dem heute ziemlich vertrauten Prinzip der ständigen Selbstoptimierung.
Wer sich abrackert, der irrt
Thoreau aber findet: Wer sich abrackert, der irrt, erst recht, wenn es nur darum geht, Besitztümer anzuhäufen. Das ist seine Eingangsthese, daraus leitet er alles Weitere ab – und beschreibt dann auf knapp 400 Seiten sein Leben in einer einsamen Hütte am Walden-See, ein Leben mit dem unbedingten Ziel, tatsächlich zu leben. Das Erwerbsleben nämlich, sagt Thoreau, lässt den Menschen nicht genug Zeit, den Alltag menschenwürdig zu gestalten.
Dazu gehören für ihn eher weniger als mehr Dinge. Reduzieren, nicht konsumieren, dann bleibt Zeit für das Schöne. Und ja, er nervt manchmal, wenn er selbstgefällig über mehrere Seiten seine einfachen Bohnengerichte lobt. Ein bisschen protestantisch, ein bisschen lustfeindlich kommt Thoreaus Ethik da daher. Aber er hat ja recht. Jeder, der schon mal mit ganz leichtem Gepäck gereist ist, kennt dieses Befremden, wenn man nach Hause kommt und den Föhn in der Hand hält, die Augencrème einknetet oder die elektrische Saftpresse anwirft. All die Dinge, die einem vor der Abreise so nötig schienen und die man nicht eine Sekunde vermisst hat.
Doch polstert es sich mit hübschen Dingen so schön ab gegen die innere Leere. Umso bizarrer ist es, dass sich jüngst ein neues Lifestyle-Magazin für Männer nach Thoreaus Buch benannt hat. „Walden“, erfunden im Großverlag Gruner + Jahr, feiert das Raus-in-die-Wildnis, die Natur, das einfache Leben. Und preist dafür eine Menge überlebenswichtiger Utensilien an. Klar, das tun Magazine nun mal, um sich zu finanzieren, um schick aussehen zu können. Vermutlich ist es auch gar nicht bizarr, sondern nur die logische Konsequenz eines Systems, das sich seine Feinde – die Alternativen – einfach einverleibt.
Widerstand ist zwecklos, auch der Ausstieg muss konsumierbar sein? Da möchte man natürlich den Kopf gegen die Wand schlagen, aber das würde nichts ändern. Trotzdem haben immer wieder, auch über 100 Jahre nach Thoreau, Menschen das pure, das nackte Leben gesucht. Der Literat Jack Kerouac etwa war in den 50er-Jahren „On the Road“, dem ging es weniger um die Natur als die unbedingte Freiheit, aber auch um den Verzicht auf alles Überflüssige. Auch auf feste Beziehungen, also das, was gemeinhin immer noch als das Ehrlichste, das Lebendigste, Unvermarktbarste gilt.
Ebenso wurden Teile der 68er von den Ideen aus „Walden“ beeinflusst, genau wie einige der Lebensreformbewegungen, Naturschützer natürlich sowieso. Mahatma Gandhi und Martin Luther King beriefen sich auf Thoreau, zu dessen Werk – er starb 1862 mit 44 Jahren an Tuberkulose – auch der Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ von 1849 zählt.
Thoreaus „Walden“ hat auch Christopher McCandless mit dabei, als er Anfang der 1990er-Jahre, getrieben vom Horror, den die Ehe seiner Eltern darstellt, die unbedingte Freiheit sucht. Also verbrennt er sein Geld, lässt sein Auto zurück und trampt erst einmal zwei Jahre durch die USA, bis er schließlich zu einem Trip nach Alaska aufbricht. Im Gepäck hat er – die Blattmacher des „Walden“-Magazins mögen erschauern – fast nichts, selbst ein Paar Gummistiefel muss ihm ein Holzfäller noch aufdrängen.
Unbeschwert ins Glück – und in den Tod
Er ist unbeschwert, innen wie außen, und gerade das scheint McCandless erst einmal zum Glück zu führen. Er findet einen verlassenen Bus, in dem er schläft, streift durch die Wildnis, liest und schreibt. Aber Alaska ist kein menschenfreundlicher Ort. Ein anschwellender Fluss reicht da, um den Weg dorthin, wo sich die Reisevorräte auffüllen ließen, für eine Zeit abzuschneiden – die lange genug ist, um zu verhungern. Möglicherweise hat er in seiner Not auch eine giftige Pflanze gegessen, so genau wurde das nie aufgeklärt.
Man kann Christopher McCandless, dessen Leben und Sterben im Spielfilm „Into the Wild“ verfilmt wurde, hassen für diese Unvernunft, mit der er sein Leben leichtfertig weggeworfen hat und anderen damit wehtut. Man kann aber es aber auch so sehen: Warum sollte die Freiheit keinen Preis haben – und ist er tatsächlich höher als der eines Lebens, dem jede Muße zur Selbstbesinnung abhandengekommen ist?
Henry D. Thoreau kehrte nach zwei Jahren am Walden-See in die Stadt zurück, er schrieb sein Buch, das damals auf weit mehr Skepsis als Achtung stieß. Sein Prinzip aber – niemand ist gezwungen, sich ausbeuten zu lassen oder selbst auszubeuten, wenn man nur bereit ist, mit den Konsequenzen zu leben und auf manches zu verzichten – ist heute aktueller denn je.
Es ist im Smartphone-Zeitalter schon fast zur Mode geworden, nicht ständig angeschaltet, erreichbar zu sein. Dazu gehört dann auch, sich zurückzuziehen – am besten an Orte, an denen es kein Netz gibt, keinen Empfang. Was heute quasi gleichzusetzen ist mit Wildnis. Dann gibt es die, die auf Geld verzichten wollen und das auch – darüber wurden inzwischen viele Reportagen geschrieben – ausgezeichnet hinbekommen. Dafür müssen sie nicht mal in den Wald. Wer von dem lebt, was täglich an frischem Essen und anderen Dingen weggeworfen wird, bleibt besser in der Stadt, hat aber in den Augen der Restgesellschaft trotzdem etwas Wildes an sich. Etwas Freies.
Dass es funktioniert, fasziniert viele. Aber es funktioniert eben bloß, weil zu viele zu viel wegwerfen. Pessimistisch könnte man also daraus schließen: Ein kollektiver Ausstieg aus dem Kreislauf Arbeit-Konsum-Arbeit ist nicht möglich. Auch Thoreau hat sich übrigens Mobiliar für seine Hütte aus Rumpelkammern zusammengesucht. McCandless lebte in einem verlassenen Bus, schlief auf einer zurückgelassenen Matratze und nicht auf dem Waldboden. Das System Ausstieg funktioniert scheinbar, so bitter das klingen mag, nur, solange zu viel produziert wird.
Ob das System der Überproduktion, des Sich-krank-Arbeitens, wie Thoreau es nannte, deshalb tatsächlich so alternativlos ist, wie immer behauptet wird, ist damit nicht gesagt. Zumindest für den Einzelnen, daran erinnern einen Thoreau und McCandless, gibt es immer eine Alternative.
Die russische Fotografin Danila Tkachenko hat in der Fotoarbeit „Escape“ Einsiedler in den Wäldern Russlands fotografiert – und wie die Welt aussieht, wenn man sie mit ihren Augen betrachtet. Das kann man auf den Bildern oben sehen.