fluter: Herr Spector, was bedeutet Epigenetik?
Tim Spector: Vereinfacht gesagt geht es darum, wie Gene an- oder abgeschaltet werden, ohne dass der genetische Code selbst verändert wird. Es handelt sich um chemische Prozesse wie die sogenannte DNA-Methylierung. Das ist die organische Verbindung der Zelle mit Methylgruppen, meist Verbindungen aus einem Kohlenstoffatom und drei Wasserstoffatomen. Diese DNA-Methylierung bestimmt, ob ein Gen zum Ausdruck kommt, indem sie dieses an- oder ausknipst. Und ob das so abläuft, hängt zum Beispiel von unserem Lebenswandel ab.
In welchen Punkten ist die Epigenetik umstritten?
Strittig ist, ob sich eine epigenetische Veränderung tatsächlich auf die nächste Generation auswirkt und verantwortlich ist für manche Zivilisationskrankheiten. Dagegen lässt sich anführen, dass epigenetische Veränderungen bei keimfreien Labortieren über mehrere Generationen hinweg weitergegeben werden, etwa wenn die Großelterngeneration Stress erlebt oder einer neuen Ernährungsweise ausgesetzt ist. Es ist aber nach wie vor unklar, ob das auch für Menschen gilt.
Welche Erkenntnisse der Zwillingsforschung belegen epigenetische Prozesse?
Wir untersuchen eineiige Zwillinge, weil sie genetische Klone sind – dennoch lassen sich auch bei ihnen enorme Unterschiede beobachten: Gewöhnlich entwickeln sie unterschiedliche Persönlichkeiten und sterben infolge unterschiedlicher Krankheiten. Solche Unterschiede lassen sich nicht allein durch ihre Gene erklären, wohl aber mit den unterschiedlichen epigenetischen Markierungen an ihrer DNA, die man findet.
Welche Unterschiede haben Sie im Einzelnen festgestellt?
Zum Beispiel, dass ein Zwilling homosexuell war und der andere heterosexuell oder einer der beiden Krebs bekam. Auch bei Erbkrankheiten zeigte sich mit fortgeschrittenem Alter oftmals ein großer Unterschied: Bei dem einen Zwilling brach die Erbkrankheit aus, der andere blieb davon verschont Wir beobachteten Zwillingspaare, bei denen einer depressiv wurde und Suizid beging, während sein Zwilling psychisch vollkommen stabil war. In diesem Fall könnte Stress bei einem Zwilling die Reaktion eines epigenetischen Signals provoziert haben.
Ist selbst die persönliche sexuelle Ausrichtung und die Religiosität oder die Weltanschauung epigenetisch beeinflusst?
Verschiedene Untersuchungen legen nahe, dass epigenetische Signale die Sexualität verändern können, doch bisher wurden erst kleine Studien an Menschen durchgeführt, und deren Ergebnisse liefern noch keine schlüssigen Beweise. Das Gleiche gilt übrigens für den Glauben – in dem sich eineiige Zwillinge ebenfalls sehr stark voneinander unterscheiden können.
Sie sagen, Traumata können von der Großelterngeneration an die Enkelgeneration weitergegeben werden. Heißt das, dass die pränatal angelegten Eizellen im Laufe des Lebens der Mutter noch veränderbar sind?
Ja, Tierversuche lassen vermuten, dass durch ein sehr stressvolles Ereignis in der Schwangerschaft die neurochemischen Vorgänge im Nervengewebe aktiviert beziehungsweise inaktiviert, etwa Stresshormone an- oder abgeschaltet werden können. Das kann auf molekularer Ebene Auswirkungen auf drei Frauengenerationen haben. So hat man etwa herausgefunden, dass die Kinder und Enkel niederländischer Mütter, die im Kriegswinter 1944/45 drei Monate lang hungern mussten, signifikant häufiger Übergewicht, Diabetes, Herzprobleme und Schizophrenie haben als jene, die ein Jahr später von Müttern geboren wurden, die nicht hungerten. Eine andere Studie in China über die große Hungersnot unter Mao Zedong in den Jahren 1958 bis 1961 untermauert diesen Befund.
Wird Krebs durch die epigenetische Forschung eines Tages besiegbar werden?
Epigenetik wird schon jetzt in der Krebstherapie genutzt, bei der Chemotherapie verschiedener Krebsarten, wo mit ihrer Hilfe das Tumorwachstum rückgängig gemacht wird. Wenn der Tumor bestimmte Gene ausgeschaltet hat, werden diese durch das Medikament wieder epigenetisch angeschaltet.
Seit einigen Jahren widmen Sie sich in einem umfangreichen Projekt der Erforschung von Mikroben im Darm, die Gene beeinflussen.
Wir können über die Analyse der Mikroben in Ihrem Kot bereits mehr Rückschlüsse über Ihren gegenwärtigen Gesundheitszustand ziehen als durch eine DNA-Analyse. Mikroorganismen können Gene an- und abknipsen, so wie die Gene zum Teil kontrollieren, welche Mikroben in unserem Darm leben und gedeihen, und auch, wie das Immunsystem darauf reagiert. Ein unstrittiges Ergebnis unserer bisherigen Studien ist, dass ungesund lebende Menschen eine geringere Vielfalt von Darmmikroben haben als Gesunde. Zudem stellten wir fest, dass es übergewichtigen Menschen an nützlichen Mikroben mangelt, über die schlanke Menschen dagegen in großem Maß verfügen. Als wir diese nützlichen Mikroben aus dem Stuhl menschlicher Zwillinge auf keimfreie Mäuse übertrugen, konnten wir damit das Fettwerden der Mäuse stoppen. Die Erforschung unserer Darmbakterien halte ich für eines der aufregendsten Gebiete der Medizin.
Wie gefährlich sind Umweltgifte?
Es besteht die Gefahr, dass chemische Schadstoffe unsere Erbanlagen epigenetisch angreifen, so wie auch unsere Darmflora. Beides kann dann an unsere Kinder weitergegeben werden – weshalb die Regierungen sehr gut daran täten, verstärkt dagegen vorzugehen.
Wie kann ich denn darauf Einfluss nehmen, was meine Gene steuert?
Wenn Sie gesund sein wollen, dann vermeiden Sie Chemikalien, die Ihre Gene beeinflussen, wie Bisphenol A in Plastik. Aber auch Vitamine wie Folsäure oder Vitamin B12 können sich je nach Dosis in unvorhersehbarer Weise auswirken, indem sie unsere Gene epigenetisch modifizieren. Und auch viele andere Chemikalien könnten unseren Genen schaden, ohne dass wir das bisher absehen. Ich glaube, eine wichtige Botschaft unserer Wissenschaft sollte sein, dass jeder über Epigenetik selbst etwas dafür tun kann, dass es ihm und seinen Nachkommen gut geht. Also dass die Gene kein unabänderliches Schicksal für einen Menschen bedeuten müssen.
Tim Spector ist Professor für Genetische Epidemiologie am Londoner King’s College. Er untersucht seit fast 25 Jahren die genetischen und umweltbedingten Voraussetzungen von Krankheiten anhand eineiiger Zwillingspaare. Der Mediziner begründete die weltweit größte Datenbank mit 13.000 Zwillingspaaren. Sein aktuelles Buch heißt „Mythos Diät. Was wir wirklich über gesunde Ernährung wissen“, Berlin Verlag