Freiwillig waren sie nicht hergekommen, die Bewohner des Conjunto Palmeiras. Die Stadtverwaltung hatte sie 1973 kurzerhand aus dem Zentrum von Fortaleza umgesiedelt, als die Grundstücke in Küstennähe zu wertvoll für einen Slum geworden waren. Nun hausten die Vertriebenen in schiefen Lehmhütten, sie nutzten den Fluss als Mülltransport, und bald war Palmeiras als übelstes Elendsquartier der ganzen Stadt verrufen. Bis Joaquim de Melo kam, den der Bischof nach Palmeiras geschickt hatte, damit der Seminarist das wirkliche Leben kennenlernte. „In den 1980er Jahren haben wir mit der Bevölkerung aus eigenen Kräften Aufräumaktionen gestartet, eine Kinderkrippe gebaut, die ersten städtebaulichen Maßnahmen eingeleitet“, erzählt der heutige Leiter der Palmas-Bank. „Und sind dabei immer davon ausgegangen, dass die Leute hier eben arm sind. Bis wir ausgerechnet haben, dass die damals 20.000 Bewohner jeden Monat umgerechnet beinahe eine Million Euro ausgaben, unter anderem für Lebens- und Putzmittel. Allerdings taten sie das so gut wie ausschließlich in anderen Stadtvierteln, und die örtlichen Händler hatten nichts von dem Geld.“

Um die Attraktivität der Händler vor Ort zu erhöhen, entstand die Idee, eine lokale Währung zu erfinden, die nur hier im Conjunto Palmeiras gültig wäre und die hiesige Wirtschaft ankurbeln würde. 1998 gründete de Melo mit einer Handvoll Partnern die Gemeinde-Bank „Banco Palmas“. Das Startkapital von umgerechnet knapp 2000 Euro hatte ihnen eine NGO geliehen, und die Jungbanker verteilten es in Form frisch gedruckter Palmas-Noten, auf denen eine stilisierte Palme abgebildet war, sofort und komplett an ihre ersten Kunden: Menschen, die vom offiziellen Bankensystem ausgeschlossen waren, über kein Konto, keine Bankkarte und keinen Überziehungskredit verfügten – weil sie weder ein nachweisbares Einkommen noch einen rechtmäßig dokumentierten Wohnsitz oder andere Sicherheiten vorweisen konnten. Ein Teil des neuen Geldes gelangte als winzige Konsumkredite zu den Slumbewohnern, der Rest als Kredite zu Kleinstunternehmern. Tatsächlich stieg der Konsum im Viertel an, die Produktionsbedingungen verbesserten sich.

Alle zusammen hatten eine Million

Zum Erfolg hat auch die Art und Weise beigetragen, wie die Banco Palmas Kredite vergibt. Das Bankgebäude sieht aus wie ein normales Wohnhaus, die Angestellten sind Bekannte aus dem Slum. Keiner fragt nach Schufa-Eintrag oder Verdienstbescheinigung. Aber so ein Bekannter wird den Nachbarn des potenziellen Kreditnehmers vielleicht irgendwann folgende Frage stellen: „Wie lange backt denn João schon Maniok-Pfannkuchen? Der hat bei uns ein Darlehen für ein Pfannkuchenunternehmen beantragt.“ Die Nachbarin könnte darauf antworten: „Das hat der João schon von seiner Oma gelernt!“ Das wäre günstig für Joãos Kreditchancen. Würde sie hingegen sagen: „Der João? Der hat noch nie irgendwas gebacken!“, sänken seine Chancen gen null. Die wichtigste Frage lautet meist: „Wenn es Ihr Geld wäre, würden Sie es João leihen?“ Damit fahren die Kreditanalysten der Banco Palmas bestens.

Nur etwa zwei Prozent zahlen ihre Schulden nicht zurück. Darlehen in Palmas sind bis zu einem bestimmten Betrag zinsfrei, Kredite in der offiziellen Währung Real kosten einen Bruchteil der üblichen Zinsen. „Wir sind nicht an Profit orientiert, sondern an der Entwicklung des Viertels“, erklärt Joaquim de Melo, „deswegen kosten bei uns Kleinkredite weniger als große.“ Nach anfänglicher Skepsis gelten die Palmas mit der hübschen Palme im P inzwischen in rund 240 Läden, die ihren Palmas-Kunden Preisnachlässe zur Kundenbindung gewähren. Die brasilianische Zentralbank verklagte ihre kleine Konkurrentin anfangs, verlor aber den Prozess. Stattdessen vereinbarte die Staatsbank mit der Slumbank, dass es immer ausreichend Gegenwert in Real für die ausgegebenen Palmas gibt, die Zweitwährung rücktauschbar und ihr Wert an den Real gebunden sein muss. Längst ist es keine Seltenheit mehr, dass Bankkunden am Schalter die bunte Zweitwährung verlangen. Nach zehn Jahren Palmas gab das Ministerium für Arbeit eine Studie zu den Auswirkungen in Auftrag. Das Ergebnis: Ein Viertel der Befragten konnte sein Einkommen seit der Bankgründung steigern, ein Fünftel hat erst danach Arbeit gefunden, und 90 Prozent sagen aus, ihre Lebensqualität habe sich seitdem verbessert.

Der Profit war die Lebensqualität

Nachdem in den 1990er Jahren die meisten Experten an eine Zukunft der globalen Währungen wie den Euro glaubten, gerieten nach der Krise von 2008 solche Überzeugungen ins Wanken. Zweitwährungen, die begrenzte Wirtschaftsräume schützen und stützen können, hatten wieder Konjunktur. De Melo sagt: „Unsere Bank hat keine Filialen. Unser Kapital bleibt im Viertel, das heißt: Da draußen kann es krachen, wie es will, das hat auf uns keine Auswirkungen.“ Die Grenzen der Zweitwährungen ergeben sich für ihn vor allem durch das begrenzte Kapital: Heute sind in Brasilien 67 verschiedene Währungen in Umlauf, ihr geschätzter Gegenwert beträgt rund 250.000 Euro. Sie alle haben – ähnlich wie im Conjunto Palmeiras – zu einem örtlichen Wirtschaftsaufschwung geführt. Das jüngste Beispiel ist im September in Rios berühmtem Slum City of God (Cidade de Deus) entstanden, und das neue Geld boomt bereits wie verrückt, berichtet de Melo. Brasiliens Nachbarn in Venezuela haben sich ebenso von den Experten der Banco Palmas beraten lassen wie Neugierige aus Afrika und Asien. Seit 2006 haben die Venezolaner es auf mehr als 200 Zweitwährungen gebracht. Joaquim de Melo wünscht sich für Brasilien eine ähnliche Zukunft. „Unsere Präsidentin hat sich die Ausrottung des Elends bis zum Jahr 2014 auf die Fahnen geschrieben“, sagt er, „und unsere Banken sind ein wichtiges Werkzeug auf dem Weg dahin!“ Der Conjunto Palmeiras jedenfalls ist längst kein Slum mehr, sondern ein normales Arbeiterviertel.