Trotz unseres Wohlstands sind wir voller Ängste. Zum Beispiel davor, im Berufs- und Liebesleben abgehängt zu werden – oder auch im Internet zu wenig Zustimmung zu bekommen. Der Soziologe Heinz Bude liefert uns noch ein paar weitere spannende Erkenntnisse
fluter: Ihr Buch heißt „Gesellschaft der Angst“. Ist Deutschland nicht ein relativ sicheres und wohlhabendes Land?
Heinz Bude: Da zeigt sich das Angstparadox. Je sicherer man ist, desto mehr Ängste hat man. Gewinne werden viel schwächer verbucht als Verluste. Daran lehnt sich meine Grundthese an: Wir sind ziemlich wohlhabend und auch reich an Lebenschancen – und haben gerade deshalb Angst davor, vieles falsch zu machen. Das hat zur Folge, dass wir uns nicht mehr dauerhaft auf etwas einlassen, sondern uns ständig Optionen offen halten wollen. Die Menschen hadern damit, Gelegenheiten nicht genutzt zu haben. Sie entwickeln ein Misstrauen gegenüber sich selbst, die quälende Vorstellung, beständig unter ihrem Potenzial zu bleiben. Nicht zu genügen, bei der Arbeit wie in den privaten Beziehungen.
Die berühmte Work-Life-Balance.
Da geht es um Selbstverwirklichung, „Quality Time“ und Lebensgenuss. Doch dummerweise ist da immer jemand, der lässiger ist, Beruf und Familie besser unter einen Hut bekommt und das mit dem Genießen auch noch klasse hinkriegt.
Im Jahr 2013 wurden in Deutschland rund 170.000 Ehen geschieden. Bedeutet diese Freiheit, sich trotz Ehe zu trennen, dass man ständig allein gelassen werden kann?
Wir sehen uns heute in allen sozialen Beziehungen mit einer Drohung der Kündigung konfrontiert. Jede Beziehung kann im Prinzip gekappt werden, wenn es dem Partner oder Gegenüber aus irgendwelchen Gründen nicht mehr gefällt. Allein zu ihren Söhnen und Töchtern gehen Väter und Mütter heute noch unkündbare Beziehungen ein. In der heutigen Musterfamilie sind nicht die Partner einander verbunden, sondern je beide Elternteile mit ihren Kindern.
Wie sieht es in der Berufswelt aus?
Da ist Selbstoptimierung gefragt, Produktivität und die Einstellung auf sich ständig ändernde Kundenwünsche. Es herrscht das Gefühl vor, immer noch ein Extra bieten zu müssen, eine Zusatzkompetenz, um im Rennen um die besten Plätze mithalten zu können. Es gibt eine Vorstellung, die heute in den Berufsbeziehungen, aber auch in den privaten, den intimen Beziehungen eine starke Rolle spielt: The winner takes it all. Ich bin besonders strahlend, besonders fit, besonders ironisch. Und wenn ich so bin, dann kann ich alles kriegen.
Ist das nicht legitim?
Es kann doch nicht nur Champions geben. Es gerät aus dem Blick, was diejenigen kriegen, die auf den zweiten und dritten Plätzen sind. Gleichzeitig breiten sich Verbitterung und nagende Neidgefühle bei denjenigen aus, die sich eingestehen müssen, auf die zweite Chance angewiesen zu sein.
Bei Ihnen ist die Rede vom „außengeleiteten Charakter“, den der US-Soziologe David Riesman schon 1950 in seinem Buch „The Lonely Crowd“ beschrieb. Dieser „außengeleitete Charakter“ sei auf besondere Weise angstanfällig.
Außengeleitet, das meint, dass wir heute unser Leben nicht mit uns selber ausmachen, sondern mit den anderen. Statt an Traditionen und inneren Werten orientieren wir uns am Verhalten der anderen. Wir sind Virtuosen der Kontaktsensibilität, können uns genau auf die anderen einstellen, weil wir versuchen, an den Erwartungen der anderen unsere eigenen
Erwartungen zu bilden.
Und wie kommt da die Angst ins Spiel?
Dieser Orientierungsprozess ist unterlegt von einer diffusen Angst, für seltsam, für merkwürdig gehalten zu werden und am Ende allein dazustehen. Denn wir wissen ja, dass die anderen nicht unbedingt zuverlässig sind.
Soziale Netzwerke und Dating-Plattformen im Internet sind relativ neu. Welche Rolle könnten die spielen bei dieser konformistischen Orientierung der Menschen?
Das Internet ist ja ein enormes Feld für die Einübung von Kontaktsensibilität. Da kann man sich selber verstellen, kann bestimmte Porträts von sich entwerfen und immer wieder testen, wie man damit ankommt bei den anderen. Das hat aber nicht nur Entfremdendes, sondern auch Spielerisches. Es könnte einen bestimmten Sozialcharakter verstärken.
Sie haben jüngst mal gesagt, bei den modernen Deutschen sei die Fähigkeit, sich an anderen zu orientieren, besonders exzellent ausgebildet. Sind wir Anpassungsweltmeister?
Wir verfügen jedenfalls über ein erstklassiges Radarsystem, arbeiten ständig an seiner Einfädelungsfähigkeit. In der Wirtschaft schätzt man so was übrigens durchaus als Soft Competences: soziale Kompetenz, Teamfähigkeit, Flexibilität. Man könnte auch von Geschmeidigkeit sprechen.
Sie schauen auch auf das Land als Ganzes – und sagen, dass Deutschland nicht darauf vorbereitet ist, sich politisch anders als reaktiv zu verhalten. Was meinen Sie damit?
Es ist ja auffällig, dass sich die Bundesrepublik in einer merkwürdigen Schwellensituation befindet: Die Tatsache, dass Deutschland die stärkste Ökonomie Europas ist, bringt hohe politische Erwartungen an uns mit sich. Und es gibt hier so eine Art von Einflussangst. Sind wir der neuen Rolle als Amerikaner Europas, also gleichzeitig beschimpft und bewundert zu werden, gewachsen? Es bereitet uns Unbehagen, dass unsere europäischen Nachbarn deutsche Antworten auf Zukunftsfragen erwarten.
Sie beschreiben Angst als flächendeckende Strömung in den Industriestaaten, quasi als die Grundmelodie moderner Befindlichkeit. Welche Rolle spielen heute eigentlich noch die klassischen Abstiegsängste?
Es gibt Ängste in den verschiedenen sozialen Lagen, hinzu kommt noch eine Art untergründige Systemangst. Die hat mit der Krise der Banken und des Finanzsystems seit 2008 zu tun; die nämlich hat deutlich gemacht: Der Kapitalismus ist ohne Krise nicht zu haben.
Wie sehen die Ängste in der Mitte, oben und unten aus?
In der Mitte merkt man, dass die obere und die untere Hälfte der Gesellschaft auseinanderdriften. Der Hochschulabschluss ist keine Garantie mehr – ein paar falsche Entscheidungen, und man findet sich in der unteren Hälfte wieder. Und es ist in Deutschland ein neues, dauerhaftes Dienstleistungsproletariat entstanden mit Leuten, die Knochenjobs machen. Da ist die Angst noch konkreter, denn sie müssen fürchten, dass ihr Körper irgendwann nicht mehr mitmacht und sie dann vor dem Nichts stehen. Es gibt aber auch die Furcht der reichen Gewinner vor dem Verlust der Kontrolle über die Konkurrenz.
Und was ist die Systemangst?
Wir leben in Systemzusammenhängen, von denen wir wissen, dass sie uns einerseits ein gutes Leben ermöglichen, aber andererseits Verwundbarkeit mit sich bringen, sodass wir an den Rand der Kontrollierbarkeit kommen. Das Thema Datensicherheit im Internet ist so ein Beispiel. Wir sind entsetzt darüber, was Unternehmen und Geheimdienste mit unseren Daten anstellen, doch für unser Verhalten hat das null Konsequenzen.
Wie sollen wir mit den von Ihnen beschriebenen Ängsten umgehen?
Esoterik, Coaching, Fitnesstraining – es gibt einen ganzen Markt der Angebote, mit denen man angeblich angstfrei werden kann. Doch darin sehe ich keinen Weg, denn Angstfreiheit ist letztlich nur um den Preis der vollständigen Resignation zu haben. Natürlich ist es wichtig, sich nicht von Angst treiben zu lassen, denn dann vermeidet man das Unangenehme, verleugnet das Wirkliche und verpasst das Mögliche. Andererseits ermöglicht Angst uns auch, einen hoffnungsvollen Blick auf die Welt zu werfen. Ängste sind eine Bedingung für Veränderung.
Also geht es eher um Angstmanagement statt Angstfreiheit?
Ich sehe zwei Varianten. Es gibt kraftvolle, risikobereite Politiker, die die Angst zum Thema machen und sie offen ansprechen. Und es gibt solche, die nie über Ängste sprechen würden und sie systematisch ausklammern. Doch darin liegt eine Gefahr, denn Angst kann die Menschen abhängig machen von Verführern. Angst kann zur Tyrannei der Mehrheit führen, weil alle mit den Wölfen heulen. Sie ermöglicht das Spiel mit der schweigenden Masse.
Die Bilder stammen aus der Fotoarbeit „The Parting“, mit der der Fotograf Tobias Kruse 2007 die Ostkreuz-Fotoschule abgeschlossen hat. Dafür hatte er eine Abiturklasse begleitet und die jungen Menschen in dem entscheidenden Moment fotografiert, in dem ein neues Leben für sie beginnt. Ein Leben, dem sie voller Träume, voller Freude, aber auch mit Zögerlichkeit und Angst entgegentreten. Kruse ist heute Fotograf der gleichnamigen Fotografenagentur Ostkreuz und reist seit vielen Jahren mit der Kamera durch die Welt. www.tobias-kruse.com
Prof. Dr. Heinz Bude, Jahrgang 1954, ist einer der einflussreichsten Soziologen Deutschlands. Seit 2000 hat er an der Universität Kassel einen Lehrstuhl für Makrosoziologie, zudem arbeitet er am Hamburger Institut für Sozialforschung. Seine Schwerpunkte liegen in der Generationen- und Arbeitsmarktforschung. Gerade erschien sein Buch „Gesellschaft der Angst“, in dem Bude die Angst als zentrale gesellschaftliche Kraft beschreibt.
Fotos: Tobias Kruse/Ostkreuz; Uwe Zucchi/dpa (Porträt)