Herr Stiglitz, was ist ein Markt?

Ein Weg, wirtschaftliche Aktivitäten zu organisieren, Waren zu produzieren, zu kaufen und zu verkaufen. Seine große Stärke ist, dass er über das Preissystem die notwendige Koordination all dieser Abläufe bietet. Für einen Einzelnen wäre es viel zu komplex, das zu tun. Im Kommunismus versuchte man, ein Wirtschaftssystem zentral zu planen. Das hat nicht funktioniert.

Dann sind Märkte also gut?

Es gibt eine ganze Reihe von Feldern, auf denen sie versagen. Werten wie Gleichheit, Fairness oder Gerechtigkeit schenken sie nicht die notwendige Aufmerksamkeit. Ebenso wenig den Auswirkungen von Handlungen, die sich nicht unmittelbar im Preissystem niederschlagen.

Warum denn nicht?

Dafür wurden sie nicht geschaffen. Sie sollen das tun, was ich anfangs gesagt habe. Märkte sind eben nicht gerecht. Sie produzieren von manchem zu viel, von anderem zu wenig.

Wie meinen Sie das?

Zum Beispiel produziert der Markt zu viel Umweltverschmutzung. Wird nicht eingegriffen, passiert Folgendes: Die Firmen, die die Umwelt am meisten verschmutzen, können ihre Waren zum niedrigsten Preis verkaufen – sie haben ja keine Kosten für Umweltschutzmaßnahmen. Das geht so lange, bis Regeln aufgestellt und Strafen angedroht werden.

Und wovon produziert der Markt zu wenig?

Er bietet zum Beispiel nicht genug Anreize, um Impfungen und Heilmittel für Krankheiten wie Malaria zu entwickeln, unter denen vor allem arme Menschen leiden. Er bietet keine angemessene Versicherung gegen viele der Risiken, denen Menschen ausgesetzt sind. Deshalb gibt es Regierungsprogramme zur Arbeitslosen- und Arbeitsunfähigkeitsversicherung. Der Markt kann zu einer Einkommensverteilung führen, die wiederum dazu führt, dass viele Menschen ganz einfach zu arm sind, um zu überleben. Der Markt selbst, wenn man ihn allein ließe, würde diese Ungleichheiten unendlich fortsetzen. Kindern aus armen Familien können die Eltern keine Ausbildung ermöglichen – und diese Kinder können dann wiederum ihre Kinder nicht zur Schule schicken.

Wie soll man den Markt denn dann betrachten: ablehnend oder mit Zuversicht?

Der Markt spielt eine wichtige, aber zugleich auch begrenzte Rolle. Keine Gesellschaft der Welt akzeptiert den Markt heutzutage einfach so. Die spannende Frage ist daher: Welche Interventionen sind wünschenswert?

Radikale Anhänger der Marktwirtschaft sagen: Gar keine – lasst den Markt nur machen, der regelt das schon.

Das ist alberne Rhetorik. Keine ernst zu nehmende Wirtschaftsanalyse würde vorschlagen, darauf zu vertrauen, dass der Markt all die Probleme lösen wird, über die wir vorhin gesprochen haben.

Konnte man sich früher auf den Markt verlassen?

Nein. Ist ein Wirtschaftssystem simpel, finden Menschen vielleicht einfachere Wege, um sicherzustellen, dass auch Werte jenseits des Preissystems berücksichtigt werden – zum Beispiel wenn es soziale Sanktionen durch die Nachbarn gibt, wenn ich Müll auf die Straße werfe. In modernen Wirtschaftssystemen funktionieren diese einfachen Kontrollmechanismen nicht mehr. Daher müssen wir auf Gesetze zurückgreifen und auf Steuern.

Hat die Globalisierung das verkompliziert?

Schon. Heute muss sich eine europäische Firma damit beschäftigen, dass sie Firmen irgendwo anders auf der Welt einen Wettbewerbsvorteil verschafft, weil sie selbst verantwortungsvoll handelt und in neue, umweltfreundliche Technologien investiert. Unser Wirtschaftssystem ist global, deshalb wird es immer wichtiger, globale Regulierungen zu treffen – zum Beispiel beim Umweltschutz.

Ist die Globalisierung dann überhaupt gut?

So simpel darf man nicht fragen. Globalisierung bedeutet erst mal nur, dass Volkswirtschaften zusammenwachsen. Sie hat dazu beigetragen, die Einkommen in vielen Teilen der Welt zu erhöhen. Die Wirtschaft in Indien und China zum Beispiel wächst in einer noch nie da gewesenen Art und Weise, das hat Hunderten Millionen Menschen aus der Armut geholfen. Zugleich hat sie das Wachstum in den Industriestaaten gefördert.

Warum wird sie dann von vielen Menschen so skeptisch betrachtet?

Weil durch die Art und Weise, wie die Globalisierung gemanagt wurde, viele Menschen auf der Strecke geblieben sind. Dabei könnte die Globalisierung, zumindest für die meisten Menschen, das Leben verbessern. Das Hauptproblem ist: Die wirtschaftliche Globalisierung hat die Globalisierung der Politik längst abgehängt. Wir sind immer stärker voneinander abhängig. Also müssen wir mehr und besser zusammenarbeiten. Aber es gibt keinen institutionellen Rahmen, um diese Kooperation effektiv und demokratisch zu gestalten.

Können nationale Regierungen dann überhaupt etwas bewirken?

Selbstverständlich. Regierungen erlassen Gesetze, schaffen Anreize, erheben Steuern und können so Einfluss nehmen. Gleichzeitig gibt es natürlich Themen, die noch besser auf einer globalen Ebene besprochen werden.

Im Juni treffen sich die wirtschaftlich stärksten Nationen zum G8 Gipfel in Heiligendamm. Ist das die globale Ebene, von der Sie sprechen?

Die G8 ist eine informelle Gruppe ohne institutionelle Macht. Aber bleiben wir beim Umweltschutz: Die G8 kann Druck auf die USA ausüben, den größten Umweltverschmutzer der Welt. Einige Länder erheben Steuern auf Waren, die in den USA unter hohem Ausstoß von Emissionen produziert werden. Diese Botschaft – man erzielt keinen Wettbewerbsvorteil mehr, wenn man dabei die Welt zugrunde richtet – könnte den US-Präsidenten vielleicht dazu bewegen, verantwortungsvoll zu handeln. Einer der Slogans der G8 unter deutscher Präsidentschaft ist: „Wachstum und Verantwortung“.

In Lateinamerika haben in den letzten Jahren viele eher linke Politiker wie Lula da Silva in Brasilien, Rafael Correa in Ecuador, Evo Morales in Bolivien Wahlen gewonnen. Jetzt scheinen sie ihre heimischen Märkte abschirmen zu wollen.

Sie schotten ihre Märkte und ihre Wirtschaft keineswegs ab! Aber sie fordern angemessene und faire wirtschaftliche Bedingungen und wollen sich nicht mehr behandeln lassen wie in der kolonialen Vergangenheit der letzten 150 Jahre. Sie verhandeln Verträge mit Ölfirmen neu. Sie sagen, sie unterzeichnen keine ungerechten Handelsabkommen mit den USA. Das ist meiner Meinung nach eine wichtige Veränderung.

Warum werden Chávez und Co. in Europa eher skeptisch beäugt?

Deren Rhetorik ist manchmal etwas aufrührerisch, sie werden oft als Populisten abgestempelt. Aber das ist doch das, was in einer Demokratie geschehen soll: Es sollen Gesellschaften, Regeln, Wirtschaftssysteme entwickelt werden, die die Interessen der Mehrheit der Menschen widerspiegeln. Bevor Chávez in Venezuela auftauchte, ging die Mehrheit der Öleinnahmen dieses sehr reichen Landes an eine kleine Gruppe von Menschen an der Spitze des Landes. Zwischen zwei Drittel und achtzig Prozent der Menschen lebten in Armut. Chávez sagt: Dieses Geld gehört den Menschen, sie sollen es bekommen, wir brauchen faire Abkommen. Ich denke nicht, dass das jemand ernsthaft kritisieren kann. 

Die Weltwirtschaft ist sehr kompliziert. Was kann ich selbst tun, um auf dem Markt bestehen zu können?

Man muss mit der Marktwirtschaft in all ihren Formen umgehen können, es geht eben mal aufwärts und dann wieder abwärts. Dazu gehört der Arbeitsmarkt: Je mehr Fähigkeiten man hat, je besser die Ausbildung, desto besser findet man sich auf ihm zurecht, desto leichter fällt es einem, darauf zu reagieren, dass manche Jobs zerstört werden, während neue geschaffen werden. Und junge Leute haben schon immer eine sehr wichtige Rolle als Bürger gespielt.

Welche Rolle sollen sie da einnehmen?

Die ältere Generation ist oft schon zu festgefahren, sie macht sich Sorgen um ihr eigenes Wohlergehen. Junge Leute gehörten schon immer zu den Ersten, wenn es darum ging, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in Gesellschaften zu begreifen. Sie müssen ihre Besorgnis ausdrücken über die Richtung, die eine Gesellschaft nimmt, die Gesellschaft, in der sie später leben müssen. Es ist von essenzieller Bedeutung, dass die Jungen diese Rolle verstehen und annehmen.

Joseph E. Stiglitz, 64, gewann 2001 den Wirtschaftsnobelpreis für seine Arbeiten über das 
Verhältnis von Information und Märkten. Er war Berater von US-Präsident Bill Clinton und 
von 1997 bis 2000 Chefökonom der Weltbank. Sein Buch Die Chancen der Globalisierung (2006) ist bei der bpb erhältlich.