Sobald Gerald Bothe einen Fußballplatz betritt, ist er hochkonzentriert. Er will sich keine Fehler erlauben. Er weiß, was passieren kann, wenn er für einen kurzen Moment nicht aufpasst. Der Schiedsrichter von Hertha BSC ist eine traurige Berühmtheit: Er ist das bekannteste Beispiel für „Gewalt gegen Unparteiische“ in deutschen Amateurligen. Im September 2011 kam der heute 54-Jährige auf dem Platz fast ums Leben.

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Kein Mon Schiri: Mit den Referees wird wenig liebevoll umgegangen (Foto: dpa / picture-alliance)

Kein Mon Schiri: Mit den Referees wird wenig liebevoll umgegangen

(Foto: dpa / picture-alliance)

Senioren-Landesliga, Medizin Friedrichshain gegen den TSV Helgoland, 83. Minute: Bothe zeigt dem Spieler Hakan G. die gelb-rote Karte. Doch der Stürmer des TSV Helgoland verlässt nicht den Platz. Er steuert auf Bothe zu und schlägt ihn mit einem Kinnhaken zu Boden. Bothe wird bewusstlos und verschluckt seine Zunge. Er ist nur noch am Leben, weil ein Spieler der Heimmannschaft Rettungsassistent ist und sofort Erste Hilfe leisten kann. Im Krankenhaus wird ein Schädel-Hirn-Trauma und ein Blutgerinnsel im Kopf attestiert.

Auf den Amateurplätzen kommt es regelmäßig zu Schlägereien unter den Spielern. Die Gewalt gegen Schiedsrichter ist relativ neu, hat sich aber in den vergangenen Jahren geradezu etabliert. Pro Saison landet allein in Berlin gut eine Handvoll Angriffe auf Unparteiische vor dem Sportgericht, das sich mit der Behandlung und Sanktionierung von Regelverstößen im Vereinssport befasst. Doch das sind nur die schweren körperlichen Verletzungen. In ganz Deutschland gibt es jährlich 600 Angriffe, die nur in den Schiedsrichterberichten auftauchen.

„Ich habe großes Glück gehabt. Mir fehlt einzig eine halbe Stunde meines Lebens“, sagt Gerald Bothe heute. Der schlanke, dunkelhaarige Mann spricht sehr ruhig über den Vorfall, den er „Todeserfahrung“ nennt. Unzählige Male haben ihn Spieler attackiert, das hat sich auch nach der lebensbedrohlichen Auseinandersetzung in Friedrichshain nicht geändert. Bothe blieb in der Berliner Kreisliga aktiv. Als er zwei Wochen nach seinem zwölftägigen Krankenhausaufenthalt wieder auf dem Platz stand und seine erste Partie pfiff, wurde er gleich so aggressiv von einem Spieler angepöbelt, dass Bothes damals 28-jähriger Sohn fast aufs Spielfeld gerannt wäre. „Es war eine ganz bewusste Entscheidung, wieder auf den Platz zu gehen“, sagt Bothe. „Obwohl ich schon geahnt hatte, dass es Ärger geben könnte.“

In Berlin haben rund 20 Kollegen von ihm aufgehört, als Schiedsrichter zu arbeiten, als er ins Krankenhaus geprügelt wurde. Zu groß war ihre Angst vor der Gewalt. „Für mich war Aufhören aber keine Option“, sagt Bothe. „Ich liebe Fußball, und mein Verhältnis zum Platz hat sich kaum geändert.“ Das seiner Familie hingegen schon. „Meine Partnerin war damals hochschwanger und hat seitdem unfassbare Angst“, sagt Bothe. Inzwischen nimmt er gar keine Familienmitglieder mehr mit, zu groß ist deren Furcht, wenn die Spieler auf ihn einschreien. „Ich selbst sehe das als Übung, möglichst ruhig zu bleiben und mich nicht von der Angst kriegen zu lassen“, sagt Bothe. „Ich denke eher hinterher, meine Güte, was da hätte passieren können.“

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Erst Pfeifen, dann Backpfeifen: Gerade in unteren Ligen geht´s zur Sache (Foto: dpa / picture-alliance)

Erst Pfeifen, dann Backpfeifen: Gerade in unteren Ligen geht´s zur Sache

(Foto: dpa / picture-alliance)

Los geht der Ärger schon in der Jugendliga. Da gelten vor allem die Eltern als aggressiv. „Sie nehmen keine Rücksicht darauf, wie jung der Schiedsrichter ist oder ob er zum ersten Mal auf dem Platz steht“, sagt Tanja Krause vom Hamburger SV. Die 28-Jährige pfeift seit 15 Jahren und bildet den Vereinsnachwuchs aus. „Wir arbeiten viel daran, dass sich neue Schiedsrichter sicher fühlen und vor allem bei uns bleiben“, sagt Krause. Trotzdem sei die Abbrecherquote relativ hoch, ein Großteil höre nach ein bis zwei Jahren auf. Das liegt unter anderem an der Angst vor Zuschauern und Spielern. Auch bei Hertha BSC gibt es Nachwuchsprobleme. „2014 haben den Verein erstmals mehr Schiedsrichter verlassen, als ausgebildet wurden“, sagt Bothe.

Die ARD-Dokumentation „Tatort Kreisklasse – Wenn der Schiri zum Freiwild wird“ beginnt mit einem Zitat aus einem niedersächsischen Schiedsrichter-Spielbericht: „Während des Spiels wurde ich von Zuschauern beleidigt. Sie schrien: ‚Hurensohn‘, ‚schwarzes Schwein‘, ‚Wichser‘ und ‚korruptes Arschloch‘.“ Es folgen weitere Beschimpfungen, auf dem Weg in die Kabine werden schließlich Bierflaschen nach dem Schiedsrichter geworfen. Auch die Kriminologin Thaya Vester zeichnet eine erschreckende Gewaltanalyse. Sie befragte für ihre Doktorarbeit 2.600 Schiedsrichter in Baden-Württemberg, und fast jeder Fünfte wurde in seiner Karriere schon körperlich angegriffen. Insgesamt 40 Prozent gaben an, massiv bedroht worden zu sein.

Für Gerald Bothe stehen die Ausschreitungen gegen Schiedsrichter für all das, womit Deutschland zu kämpfen hat, allem voran: Armut und Arbeitslosigkeit. „Auf dem Platz kann sich jeder Hartz-IV-Empfänger Luft machen“, sagt Bothe. Die gefährlichsten Spieler seien deutsche Männer über 30. „Die sind entweder frustriert oder erfolgreich, wollen sich aber so oder so nichts sagen lassen“, erklärt er. „In unserer Gesellschaft ist das Ego inzwischen zum absoluten Mittelpunkt geworden.“ Der einstige Teamsport werde bestimmt durch Einzelkämpfer, die nur noch sich selbst sehen und immer recht behalten wollen. Die Vereine weisen inzwischen explizit darauf hin, dass Fußball nur ein Spiel ist und nicht zu einem Schlachtfeld werden sollte. Das hilft allerdings kaum. Die psychische Gewalt aus Beleidigungen, Pöbeleien und Drohungen wird außerdem bislang kaum erfasst.

„Manchmal wundere ich mich selber, wie wenig ich mich fürchte“, sagt Tanja Krause, die mit den Spielen der Amateurliga manchmal ihre liebe Not hat. Zweimal wurde sie im Anschluss getreten und bedroht. „Das ging bis vors Sportgericht“, sagt Krause. „Man ist als Schiedsrichter ein leichtes Opfer. Wird man beleidigt oder angegriffen, darf man sich ja nicht so wehren, wie man das auf der Straße tun würde.“ Insgesamt habe der Job als Schiedsrichterin vor allem ihren Charakter gestärkt: „Man lernt, sich in kritischen Situationen durchzusetzen, selbst wenn einen alle anschreien.“ Nicht selten steht Krause Nase an Nase mit wütenden Männern und muss dabei sehr ruhig bleiben. „Wenn ich auf dem Platz permanent Angst hätte, müsste ich die Pfeife an den Nagel hängen.“

Anne Backhaus ist Autorin in Hamburg und wohnt so nah am St. Pauli Stadion, dass sie jedes Tor hören kann. Sie liebt die Gesänge der Fußballfans und war überrascht, wie leidenschaftlich die Schiedsrichter zu ihrem Sport stehen.