fluter: Bekommen nicht allzu oft diejenigen Recht, die das meiste Geld haben? Die sich also zum Beispiel die besten Anwälte leisten können?
Wesel: Bei manchen Gerichtsverfahren braucht man einen langen Atem, und den muss man sich auch leisten können. Es gibt aber die sogenannte Prozesskostenhilfe, und damit sind unsere Gerichte im Allgemeinen sehr großzügig. Man kann schon sagen, dass das Recht seine Gerechtigkeitsfunktion im Großen und Ganzen in Deutschland sehr gut erfüllt.
Wenn man es global betrachtet, ist es mit der Rechtsstaatlichkeit aber nicht so weit her. Große Banken dürfen fragwürdige Geschäfte machen und werden dafür kaum bestraft.
Weil sie für die Erhaltung des teilweise ziemlich entfesselten kapitalistischen Systems wichtig sind. Aber es gibt ja nicht nur Unternehmen, die sich nicht ums Recht scheren, sondern auch Länder – etwa Russland. Dort gibt es zwar wie bei uns ein Verfassungsgericht, aber selbst mächtige, reiche Menschen werden dort von der Staatsmacht vernichtet. Oder schauen Sie in viele arabische Länder: Das Unrecht, das dort im Namen der Herrschaft begangen wurde, wird nun allmählich beseitigt. Das ist schon ein toller Vorgang.
Welche Funktion hat das Recht noch neben der Gerechtigkeit?
Es hat auch eine Ordnungsfunktion – also etwa, dass man mit dem Auto nur auf der rechten Seite fahren darf – und eine Herrschaftsfunktion, weil es das Eigentum und letztlich den Kapitalismus schützt.
Wer schützt uns vor der Herrschaft?
Das Recht hat auch eine Herrschaftskontrollfunktion. Die Verwaltung kann dem Bürger gegenüber nicht tun und lassen, was sie will. Es gibt natürlich eine institutionelle Macht, also Herrschaft, die uns gegenüber Maßnahmen ergreifen kann, aber das können wir vor den Verwaltungsgerichten anfechten und bis zum Bundesverfassungsgericht gehen.
Recht ist immer in Bewegung, oder?
Ja, es verändert sich. Es ist zum Beispiel sehr stark abhängig von der Religion, fast noch mehr als von der wirtschaftlichen Situation. Denken Sie nur an die Hexenverfolgungen. Auch steht in der Bibel, dass „die Frau dem Manne untertan sei“. Das hat sich sehr lange im Recht widergespiegelt. In den islamischen Ländern ist das Recht weitgehend noch abhängig von der Religion, etwa in Iran. Anders ist es in der Türkei, wo wir eine Trennung von Recht und Religion sowie von Staat und Kirche haben, die den wirtschaftlichen, demokratischen und auch ökonomischen Fortschritt erst ermöglicht. Recht ist von vielen Faktoren abhängig.
Wie kann man verhindern, dass die Leute sagen: „Recht ist inzwischen etwas, das ich sowieso nicht durchschaue“?
Mit dem Recht ist es wie mit der Technik. Das Recht ist wie eine riesige Maschine. Sie können zwar Auto fahren, aber Sie wissen gar nicht, wie das alles funktioniert. Recht hält einen kapitalistischen, demokratischen, freiheitlichen Betrieb am Laufen. Da muss man sich langsam einarbeiten.
Es dauert lange, bis sich die Liberalisierung einer Gesellschaft auch in Gesetzen zeigt. Wie kommt das?
Gerade die Loslösung von religiösen Dogmen brauchte sehr lange. Und ohne das Bundesverfassungsgericht wäre das heute immer noch nicht gelungen. Es liegt aber auch daran, dass die Juristen eher aus einem konservativen Milieu kommen. Die Eltern erfolgreicher Juristen haben in der Regel mehr Geld und können ihre Kinder besser fördern. Heute ist es sogar so, dass die jüngeren Richter, vorsichtig ausgedrückt, weniger progressiv sind als etwa die Generation, die ’68 studiert hat. Und leider Gottes muss man auch sagen, dass die Juristen, die heute ausgebildet werden, nicht mehr so qualifiziert sind wie vor etwa 30 Jahren.
Was bedeutet „qualifiziert“?
Das heißt, dass der Jurist eben sein Metier beherrscht und juristisch möglichst nach dem Gesetz argumentiert, oder wenigstens die Rechtsprechung im Kopf hat und schnell und richtig zu einem Ergebnis kommt. Und das muss mit dem übereinstimmen, was Recht und Gerechtigkeit erfordern. Das ist heute nicht mehr so selbstverständlich, weil wir seit ungefähr 20 Jahren unsere Universitäten vernachlässigen. Wir machen das größte Kapital, das wir in der Bundesrepublik haben, kaputt durch eine ungeheure Vernachlässigung der Finanzierung unserer Universitäten.