Wer sich schon einmal gefragt hat, ob die eigene Matheschwäche mit den Schwierigkeiten von Mama, Papa oder der Großmutter zu tun hat, ist schon mittendrin im Problem. Ob die Fähigkeiten (oder Nichtfähigkeiten) eines Menschen ererbt oder ob sie durch Umwelteinflüsse bedingt sind, lässt sich nämlich nicht beantworten. Viel mehr: Die Frage ist völlig veraltet und wissenschaftlich überholt. Weil nämlich die Verwirklichung von Erbanlagen in einem ständigen Wechselspiel mit Umwelteinflüssen stattfindet. So wird es das größte mathematische Talent zu nichts bringen, wenn es nicht täglich übt. Oder, wie es der Schriftsteller Theodor Fontane einmal gesagt hat: "Genie ist Fleiß."
Wenn Kinder zum Beispiel das Verhalten der Erwachsenen beobachten, werden sie sehr viele Verhaltensweisen sehen, mit denen sie erst später selber etwas anzufangen wissen. Wenn ein Kind seinen Vater ein Brot schneiden sieht, dann wird ihm diese Beobachtung Jahre später helfen, die wirklichen Bewegungen in die Tat umzusetzen. Der Psychologe Albert Bandura hat diesen Vorgang "soziales Lernen" genannt.
Dabei ist das Brotschneiden ein einfaches Beispiel. Andere Arten des Modelllernens sind komplizierter. So ist es zum Beispiel selten möglich, direkt nachzuvollziehen, inwiefern sich aggressives Verhalten erwachsener Menschen auf deren frühe Kindheitserfahrungen gründet. Dass man sich in Konfliktsituationen ähnlich verhält, wie man es als Kind bei Erwachsenen beobachtet hat, ist hingegen wissenschaftlich gut dokumentiert. Wer oft und regelmäßig in seiner Kindheit Gewalt mitbekommt, neigt später zur Anwendung von Gewalt in Auseinandersetzungen. Oder sagen wir es so: Die Wahrscheinlichkeit dafür ist groß, zwangsläufig ist es natürlich nicht. Wer autoritäre Eltern hat, muss deshalb nicht selbst autoritär werden. Es ist nur eben ungewöhnlich, ein Verhalten zu entwickeln, das einem nie oder nur selten vorgelebt wurde.
Niemand wird je vorhersagen können, warum jemand ein guter Schüler wird. Es steht nicht als Vorschrift in den Genen, sondern entwickelt sich in den komplizierten Verhältnissen, in denen jeder Einzelne von uns lebt. Sicher ist nur eins: Keine Begabung ist so stark, dass sie nicht durch die Verhältnisse zerstört werden kann.