An den ersten Tagen der Europameisterschaft in Frankreich machte nicht der Fußball die Schlagzeilen, sondern russische, französische und englische Hooligans, die sich in Marseille heftige Straßenschlachten lieferten. Der Ukrainer Pavel Klymenko arbeitet für die Organisation FARE (Football against Racism in Europe), die Vorfälle von Rassismus, Sexismus und extremen Nationalismus bei internationalen Fußballspielen dokumentiert. Klymenko beobachtet die europäische Hooligan-Szene seit Jahren. Mit ihm haben wir über die Ausschreitungen in Marseille gesprochen und über die Verbindungen zwischen den Hooligans und rechtsextremen Kräften

fluter: In der ersten Woche der Europameisterschaft vermeldete das französische Innenministerium die Verhaftung von 323 Fans. Warum scheint die Gewalt gerade bei dieser Europameisterschaft so präsent zu sein?

Pavel Klymenko: Zu Beginn der Euro hat man sicher den Eindruck bekommen, als würde sich da eine „Spirale der Gewalt“ entwickeln. Aber bis auf die Ausschreitungen von Marseille waren andere Unruhen doch eher marginal. Allerdings nutzen gerade die rechtsradikalen Fans das Turnier dazu, um sich zu präsentieren. Es gab eine Gruppe deutscher Nazi-Hools, die sich mit der Reichskriegsflagge in Lille präsentiert haben, ungarische Fans mit homophoben Gesängen, ukrainische Fans mit Nazi-Tattoos, kroatische Anhänger, die Symbole der Ustascha (eine faschistische Bewegung, Anm. d. Red.) zeigten. Auch französische Fangruppen aus der rechten Ecke haben hier und da versucht, ihre „Minute of Fame“ zu erhaschen. All das spiegelt auch die turbulenten Zeiten wider, die Europa gerade erlebt – mit dem Aufstieg des rechtsextremen Populismus, mit dessen Hetze gegen den Islam und gegen Flüchtlinge.

Kann man denn von einem neuen Hooliganismus in Europa sprechen?

Was Sie als „neuen“ Hooliganismus bezeichnen, ist nicht besonders neu. Er hat sich in den vergangenen Jahren entwickelt – mit den Verbindungen zwischen rechtsextremen Parteien und Gruppierungen, Neonazis und Hooligans. Auf dem europäischen Clublevel beobachten wir dieses Phänomen schon lange – vor allem in Zentral- und in Osteuropa. Dieser Hooliganismus ist jünger, besser organisiert und professioneller, weil die Hools häufig von den Erfahrungen der Neonazis profitieren können, die bereits über Strukturen und Netzwerken zu Parteien oder organisierten Gruppierungen verfügen. Auseinandersetzungen werden gut vorbereitet, dafür wird hart trainiert und nicht selten werden sie mit „Guerilla-Methoden“ umgesetzt. All das wurde durch die Randale von Marseille erstmals nun auch für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar.

Seit Marseille wird sehr viel über den russischen Hooliganismus diskutiert. Wie lässt sich dieser charakterisieren?

Russische Hooligans bereiten sich gezielt auf die Kämpfe vor. Die meisten der Kämpfe, die sie mit verfeindeten Hooligans austragen, finden an Plätzen außerhalb des Stadions statt, im Wald oder auf dem Acker. Die Angriffe auf den Gegner werden immer taktisch geplant. Es gibt mittlerweile einen großen Markt an Mixed-Martial-Arts-Kämpfen, an denen viele aus der Hoolszene und der Neonazi-Szene beteiligt sind. Die haben ihre eigenen Klamottenmarken wie beispielsweise „White Rex“. Diese Kämpfe sind ein wichtiges Verbindungsstück zwischen den Hools und den Neonazis. Dort wird der Hoolnachwuchs mit der rassistischen Ideologie der Neonazis gefüttert und Leute werden für die eigene „politische“ Arbeit rekrutiert.

Sind russische Hooligans tatsächlich viel brutaler, oder wird das von der Presse aufgebauscht?

Russische Hools  gehören nach unserer Erfahrung tatsächlich zu den brutalsten, am besten organisierten und rassistischsten Gruppen in der Szene. Allerdings stehen ihnen Polen oder Serben in fast nichts nach. Dass die russischen Hools während des Turniers die ganze „schlechte Presse“ bekommen haben, hat einfach damit zu tun, dass die polnischen Hools sich aus irgendeinem Grund entschlossen haben, dem Turnier fernzubleiben. Und die serbische Mannschaft hat sich ja erst gar nicht qualifiziert.

Versucht der russische Fußballverband das Hooligan-Problem in den eigenen Stadien in den Griff zu bekommen?

Es gab von Verbands- und Staatsseite einige Versuche, den Hooliganismus zu bekämpfen. Eine Sozialarbeit, die sich wie in England oder Deutschland mit Fans beschäftigt, gibt es nicht. Aber dieses Turnier hat offenbart, dass die Russische Fußballassoziation und auch die Vereine fundamental umdenken müssen. Einige der in Frankreich nun verurteilten Hooligans haben mitunter als Fanbeauftragte in ihren Vereinen gearbeitet. Ein anderes Beispiel für den Einfluss der Hools auf die offiziellen Strukturen ist Aleksander Schprygin. Der rechtsradikale Aktivist ist Vorsitzender der Russischen Fanvereinigung (VOB). Er wurde aus Frankreich abgeschoben. Mitglieder seiner Vereinigung waren nachweislich an den Ausschreitungen in Marseille beteiligt.

 

Experten spekulieren, ob der Kreml die Hools nach Frankreich geschickt hat, um dort Unruhe zu stiften. Was sagen Sie dazu?

Die russische Regierung trägt in jedem Fall eine Mitverantwortung, weil sie nicht verhindert hat, dass rechtsradikale Köpfe wie Schprygin offizielle Strukturen für ihre Belange missbrauchen können. Gegenüber den Verschwörungstheorien, die besagen, Putin habe die Hools in einer orchestrierten Aktion geschickt, bin ich sehr skeptisch. Der Kreml mag die Ereignisse in Marseille dazu benutzen, um seinen eigenen isolationistischen Weg innenpolitisch zu rechtfertigen. Nach dem Motto: Der Westen ist gegen uns. Aber ich bin mir sicher, dass niemand damit gerechnet hat, dass die russischen Hools derart „erfolgreich“ sein würden – auch die Hools selbst nicht. Denen ging es vor allem darum, der Welt zu zeigen, dass sie die neuen Könige des Hooliganismus sind.

Nochmals zur Verbindung zwischen Hooligans und der Politik in Russland: Wie sieht diese aus? Wer benutzt da wen? Gibt es keine Gegenbewegungen?

Die organisierte Fanszene hat in den vergangenen Jahren einen Wandel ihrer Beziehungen zur Regierungsseite erlebt: Zunächst wurden Fans vernachlässigt, zeitweise bekämpft, schließlich wurden Hools von der Politik benutzt, um oppositionelle Proteste einzuschüchtern oder zu bekämpfen, wie beispielsweise 2011 bei den Protesten gegen Putin in Moskau. Einige Rechtsradikale wie eben Schprygin oder wie der Duma-Abgeordnete Igor Lebedew, der über die Schirinowski-Partei an Posten gekommen ist, haben sich die politischen Netzwerke zunutze gemacht. Aber auf der Graswurzel-Ebene haben sich die Fußballfans und Hooligans ziemlich gut selbst organisiert. Die haben ihre eigene Subkultur. Die Neonazi-Szene hat sich quasi Hand in Hand mit der der rassistischen Hooligans entwickelt. Es gab einige Versuche, Gegenbewegungen zu etablieren. Einige Szenen wie die antifaschistischen Fans von Spartak Naltschik gibt es noch, aber die haben selten mehr als 50 Mitglieder.

Auch englische Fans sind bekanntlich keine Lämmer. Gibt es die gefürchteten englischen Hools der Achtziger und Neunziger überhaupt noch?

Es gibt noch einige Überbleibsel der alten Hooligan Firms (ein feststehender Begriff aus dem Englischen für die Hooligan-Gruppierung eines Vereins, Anm. d. Red.) wie in Millwall, bei West Ham United oder in Chelsea. Auch die fahren noch zu internationalen Spielen. Aber die meisten der sogenannten englischen Hools sind ein ziemlich unorganisierter Haufen aus trinkenden, sexistischen, häufig auch xenophoben und vor allem weißen Rowdys in der Mitte ihres Lebens. Die messen sich eher in spontanen Kneipenschlägereien. Dem organisierten Hooliganismus aus Zentral- oder Osteuropa haben sie nur schwerlich etwas entgegenzusetzen.

Was erwarten Sie für die nächsten Wochen des Turniers? Ist ein Szenario wie bei der WM 1998 in Frankreich denkbar? Beim Vorrundenspiel Deutschland gegen Jugoslawien in Lens war es zwischen deutschen Hooligans und der französischen Polizei damals ja zu extrem gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen, bei denen der Polizist Daniel Nivel so brutal zusammengeschlagen wurde, dass er danach sechs Wochen im Koma lag.

Die ersten Tage der Gewalt waren auch ein Weckruf für die französischen Sicherheitsbehörden. Außerdem scheint es ja so zu sein, dass die Teams mit den problematischsten Fans bereits nach Hause fahren müssen. Die Europameisterschaft kann nun also ein richtiges Fest werden.

Pavel Klymenko ist „Fare Eastern Europe Development Officer“ beim Fan-Netzwerk FARE, das seinen Sitz in London hat. Er stammt aus Kiew und war in den vergangenen zehn Jahren in einer antifaschistischen Bewegung seines Landes aktiv. Seinen Masters machte er in Leipzig und in Wien.

„Guerilla-Methoden“ von Hooligan-Gruppen

Zu der Taktik organisierter russischer Hooligans gehört es, den Ort, an dem ein Angriff auf gegnerische Fans stattfinden soll, auszukundschaften – vor allem hinsichtlich guter Fluchtwege und vorhandener Überwachungskameras. Die Angriffe werden via Smartphone koordiniert und in kleineren Gruppen ausgeführt. Sie geschehen schnell, um den Gegner mit voller Wucht zu überraschen. Ebenso schnell verschwinden die Hooligans wieder. Unter anderem aus diesem Grund konnten die französischen Sicherheitsbehörden an den Tatorten in Marseille keinen einzigen russischen Hooligan festnehmen.

Fotos: Ian HANNING/REA/laif; dpa / picture-alliance