Das größte Abenteuer, das die knapp 4.000 Passagiere des Kreuzfahrtschiffes „Adventures of the Sea“ normalerweise erleben, ist das Anstehen an einem der vielen Buffets an Bord. Von daher ist es ein großes Ereignis, als das Schiff am 14. September 2012, 38 Seemeilen vor dem spanischen Cartagena und rund 100 Seemeilen von Algerien entfernt, auf Menschen trifft, die wirklich ein Abenteuer auf dem Meer erleben – bloß eben nicht in einem romantischen Wortsinn.
Dreizehn Geflüchtete aus Nordafrika sind es, verloren auf dem Weg nach Europa, in einem winzigen Boot, dessen Antrieb nicht mehr funktioniert. Manche sitzen, manche stehen, einer winkt mit einer Fahne. Die Kreuzfahrtpassagiere an der Reling des Schiffes winken zurück, manche filmen mit ihren Handys. Einen der Clips, dreieinhalb Minuten ist er lang, nahm der deutsche Dokumentarfilmer Philip Scheffner zum Anlass, „Havarie“ zu drehen.
Er interviewte dafür zahlreiche Menschen: Besatzungsmitglieder der „Adventures of the Sea“. Den Nordiren Terry Diamond, der das Video drehte. Abdallah Benhamou, einen Algerier, der zwar nicht in dem gefilmten Boot saß, aber ebenfalls ein „Harraga“ ist, einer der vielen Nordafrikaner, die sich in Booten auf den Weg nach Europa machen. Benhamous Frau, die in Frankreich lebt und von ihm durch das Mittelmeer getrennt ist. Die ukrainischen Offiziere und philippinischen Crewmitglieder eines Containerschiffs, das zwischen Algerien und Spanien verkehrt und dessen Besatzung immer wieder mit Flüchtlingsschicksalen konfrontiert wird.
Das Bild eines überfüllten Schiffs gehört längst zum Standardrepertoire der Medien
Nachdem all das Material gedreht war, traf Philip Scheffner eine radikale ästhetische Entscheidung: Er zeigt auf der Bildebene die extrem verlangsamte Fassung von Terry Diamonds Clip, 3:37 Minuten auf 93 Minuten gestreckt. Und sonst nichts. Das Bild eines überfüllten Schiffs voller Namenloser auf dem Mittelmeer, so Scheffler, sei im Laufe der Dreharbeiten ins Standardrepertoire der Berichterstattung über die Flucht nach Europa eingegangen. Deshalb der Verfremdungseffekt.
Wir sehen pro Sekunde etwa einen Frame des Handyvideos. Hoch und runter tanzt ein grobpixeliges winziges Schiff auf dem endlos blauen Mittelmeer, verschwindet mal kurz aus dem Bild, ist mitunter unscharf oder geisterhaft doppelt zu sehen. Die ersten rund 50 Minuten des Films passiert nichts anderes, dann kommt der Schwenk auf die hochhaushohe Glanzfassade des Kreuzfahrtschiffs, auf dem auch wir stehen könnten: weit weg, in Sicherheit – und hilflos.
Der Rest ist ein Hörspiel, strukturiert durch die Funksprüche zwischen dem Kreuzfahrtschiff und den Seenotrettungskräften, denn die „Adventures of the Sea“ wartet, bis Hilfe kommt, und versorgt die Geflüchteten mit Wasser. 90 Minuten dauert das, so lange wie „Havarie“.
Das klingt anstrengend. Aber es funktioniert. Jedenfalls wenn man mit ein wenig Vorwissen in den Film geht und aufgeschlossen ist. Dann kann man sich hineinziehen lassen in diesen Fluss aus Telefonaten und Schilderungen, auf Arabisch, Französisch, Englisch, Ukrainisch, Spanisch. Die Erzählungen der Protagonisten, die im Film nicht weiter vorgestellt oder eingeordnet werden, drehen weite Schleifen: bis zum Krieg in der Ukraine und dem längst vergangenen Konflikt in Nordirland. Durch die abstrakte Bildebene werden die Geräusche noch präsenter: Schiffsmotorrattern und Meeresrauschen, Vogelzwitschern, Schritte und Handyklingeln, singende Seeleute und die Band des Kreuzfahrtschiffes.
„Ist der Strand nicht schön? Ein ganzes Volk ist von hier aufgebrochen“, sagt der Algerier Abdallah Benhamou. „Das Leben hier ist wie eingefroren. Du vergisst die Welt da draußen“, sagt eine Mitarbeiterin des Kreuzfahrtschiffes. „Ich sah sie im Boot sitzen. Ich kann mich an kein Gesicht erinnern“, sagt ein Kollege von ihr, der die Geflüchteten mit Wasser versorgt hat. „Sind die Straßen in Odessa sicher?“, fragt der ukrainische Kapitän des Containerschiffs seine Frau am Telefon. „Ich mag das Geräusch der Wellen. Es gibt einem das Gefühl von Frieden“, sagt Terry Diamond. „Ich habe von den toten Libyern gehört. Vielleicht wandern ihre Geister noch hier umher“, sagt einer der Filipinos.
„Havarie“, Deutschland 2016; Regie: Philip Scheffner, Buch: Merle Kröger, Philip Scheffner; 93 Minuten