Die Situation hätte kaum auswegloser sein können. Auf breiter Front rollten deutsche Panzer im Frühsommer 1940 auf Paris zu, die Stadt war nicht mehr zu halten. Den Franzosen waren die Gräuel an der Westfront im Ersten Weltkrieg noch in schrecklicher Erinnerung. 1,3 Millionen französische Soldaten hatten damals ihr Leben gelassen – bei einer Bevölkerung von 40 Millionen. Frankreichs Politiker standen nun vor einem moralischen Dilemma: Sollte man einen Waffenstillstand anbieten, um vielleicht noch Menschenleben zu retten, oder weiter gegen die deutsche Wehrmacht kämpfen?
Sie entschieden sich für das Ende der Kämpfe. Mit dem Waffenstillstand von Compiègne vom Juni 1940 endete der Westfeldzug der Deutschen. Im größeren Nordteil Frankreichs herrschte von nun an die Wehrmacht, im Süden, etwa 40 Prozent des Staatsgebietes, entstand der „État français“. Der greise Marschall Philippe Pétain, ein 84-jähriger Kriegsheld, wurde mit der Bildung einer Regierung beauftragt und mit quasidiktatorischen Vollmachten ausgestattet. Der Regierungssitz wurde in den Kurort Vichy verlegt. Bekannter ist der „État français“ deshalb als „Vichy-Frankreich“. Frankreich war schon vor dem Überfall der deutschen Truppen ein zerrissenes Land. Linke und rechte Kräfte kämpften teils blutig um die Macht im Land. Monarchisten und Reaktionäre, Rechtsextremisten und Antisemiten sahen im Vichy-Regime nun eine willkommene Gelegenheit, um sich ihrer Gegner zu entledigen.
Als wichtigster Mann neben Marschall Pétain galt Pierre Laval, ein Realpolitiker durch und durch. Noch Mitte der 1930er hatte er versucht, eine französisch-italienische Allianz gegen Nazideutschland aufzubauen. Nun, da das Deutsche Reich scheinbar unaufhaltsam den Kontinent erobert, wandelt er sich zum Kollaborateur. Wie anders sollte man auch in einem Nazi-Europa das eigene Volk regieren, wenn nicht unterwürfig? Andere entscheiden sich für das Gegenteil – und kämpfen als Mitglieder der Résistance, der Widerstandsbewegung, im Untergrund oder vom Ausland aus gegen das Vichy-Regime und die Nationalsozialisten. 1943 gründet Laval die Milice française. Die faschistische paramilitärische Organisation verhaftet vor allem Kämpfer der Résistance und Juden, auch mithilfe der deutschen Sicherheitspolizei. Sofern man sie nicht sofort ermordet, werden sie zu Zehntausenden in deutsche Konzentrationslager deportiert. Beim Massaker von Guerry im Juli 1944, nur eines unter vielen, stürzen Milizionäre 36 Juden in einen tiefen Brunnen, viele von ihnen bei lebendigem Leibe. Dann werfen sie Steinblöcke hinterher.
Der weltanschauliche Riss zwischen jenen, die sich auflehnen, und jenen, die bereitwillig mitarbeiten, zieht sich im Vichy-Regime auch durch Familien. Joseph Darnand, militärischer Leiter der Milice française, wird 1943 Obersturmführer der Waffen-SS, leistet einen Eid auf Hitler. Sein Neffe, Robert Darnand, schließt sich der Résistance an und wird in das KZ Neuengamme am Rande von Hamburg deportiert.
Mit der Befreiung Frankreichs im Sommer 1944 geht das Vichy-Regime unter. Pétain und Laval werden von ihren Landsleuten angeklagt. Sie hätten doch nur das Wohl Frankreichs im Sinne gehabt, verteidigen sie sich. Zum Tode verurteilt werden beide, hingerichtet wird nur Laval.
1995 spricht Präsident Jacques Chirac von Vichy als schwarzer Stunde, die auf ewig die Geschichte Frankreichs beflecken wird: „Den kriminellen Wahnsinn der (deutschen) Besatzer haben Franzosen, hat der État français unterstützt.“ Kein Staatschef Frankreichs hat je zuvor die Beteiligung des Vichy-Regimes an den Verbrechen der Nationalsozialisten