Was willst du Kleine denn hier? Du hast doch gar keine Chance“, dachte sich Katharina* als sie ihre Tochter zum ersten Mal sah. Vor ihr, auf der Säuglingsstation des Ulmer Krankenhauses, lagen 1700 Gramm Mensch, viel zu wenig eigentlich, und hörten einfach nicht auf zu leben. Katharinas Baby hatte eine Lebenserwartung von null Jahren, null Monaten und null Tagen. Die Diagnose: Hydroencephalitis. Daraus resultiert, was der Volksmund Wasserkopf nennt. Ein Blutpropfen hatte die Entwicklung des Großhirns verhindert. Im sechsten Schwangerschaftsmonat hatten Augsburger Ärzte Katharina gesagt, dass ihr Mädchen höchstwahrscheinlich außerhalb des Mutterleibes nicht lebensfähig sein werde, dass der Geburtstag des Kindes auch sein Todestag werden würde. 

Sie rieten zu einem Schwangerschaftsabbruch und schlugen vor, das Ungeborene mit einer Kaliumspritze durch die Nabelschnur zu töten. Kalium lähmt die Muskeln, auch die des Herzens. Katharina war verwirrt: Wieso töten, wenn ihr Kleines doch sowieso sterben würde? Und was hieß eigentlich wahrscheinlich? Nein, sagte sie sich, so nicht, und den Ärzten sagte sie, dass ihre Tochter selbst entscheiden solle, ob sie leben will. Das winzige Mädchen kam also auf die Welt – und atmete. Die Ärzte sagten, ihr Herz werde höchstens noch ein paar Tage schlagen. Ein Arzt riet, das Kind erfrieren zu lassen, das sei der leichtere Tod. 

Katharina hörte ihnen nicht mehr zu. Sie hatte ihre Entscheidung längst getroffen. Dann nahm sie das Kind mit nach Hause. „Wir beide haben nicht aufgegeben, gell?“, sagt Katharina mit leiser Stimme und küsst ihre Tochter auf die Stirn. Die zierliche, heute 24-jährige Mutter sitzt in einem Zimmer der „Wiege“, eines Heims für behinderte Kinder in Odelzhausen bei München. Dort werden sie am 17. Dezember ihren zweiten Geburtstag feiern. Das Mädchen ist schwerstbehindert, ein nicht sichtbarer Schlauch transportiert Wasser aus ihrem Kopf in den Bauch. Ein anderer Schlauch führt durch die Nase in den Magen, weil sie nicht genügend trinken kann.

Der Schlauch ist mit einem Pflaster in Herzform an der Backe festgeklebt.„Manchmal ist es ein Wolkenpflaster, das sieht auch süß aus“, sagt Katharina, sie lächelt dabei, während die kleine Hände ihrer Tochter nach ihren Daumen greifen. Sie wird nie sitzen, stehen, reden oder bewusst handeln können. Aber sie freut sich, wenn sie gestreichelt wird, sie lacht, wenn man sie kitzelt, und sie schreit, wenn sie Hunger hat. Sie lebt, das ist die Leistung. „Die Kleine hat jetzt schon mehr geschafft als ich“, sagt Katharina. Dann wischt sie sich die Finger an der Hose trocken. Sie hat das Wasser verschüttet, das für ihre Tochter bestimmt war.„Guck, war die Mama wieder ungeschickt“, flüstert sie ihr ins Ohr. 

Anfangs hatte Katharina ihr Kind bei sich. Sie packte es warm ein, weil es seine Temperatur nicht halten konnte. Sie fütterte es jede Stunde, weil die Kleine nur vier bis fünf Milliliter auf einmal schaffte. Sie stritt mit der Krankenkasse um Therapieleistungen für das Baby, sie brachte es zu Ärzten, in Tagesstätten, zur Physiotherapie oder ins Krankenhaus, wenn es wieder operiert werden musste. Katharina war völlig überfordert.„Aber ich habe jeden Tag gesehen, wie meine Kleine kämpft, das hat mir Kraft gegeben.“ Die Kraft, die all die anderen ihr nicht geben wollten: der Vater, der die Vaterschaft bestritt und seiner Tochter, die er nur einmal sah, derzeit rund 3.000 Euro Alimente schuldet, und Katharinas Eltern, die ihr erstes Enkelkind, das doch sowieso bald tot sein würde, zunächst nicht lieb haben konnten. 

Trotzdem war klar, dass die junge Mutter diese Anstrengungen irgendwann nicht mehr bewältigen könnte. Nicht allein und nicht, ohne ihre eigene Zukunft vollkommen zu opfern. Die Alternative war die „Wiege“. Dort bekommt ihre Tochter Ergo- und Physiotherapie gegen ihre Spastiken, dort sind rund um die Uhr Krankenschwestern vor Ort und dort kommt jede Woche ein Arzt zur Visite vorbei. Anfangs wollte Katharina ihr Mädchen nur für kurze Zeit in die „Wiege“ geben, aber als sie sah, dass es ihrer Tochter dort besser ging und die Spastiken weniger wurden, entschied sie, dass die „Wiege“ ein guter Ort sei, um den Kampf fortzusetzen:„Für uns ist es kein Heim, sondern ein Zuhause.“ 

Seither hat Katharina auch Zeit für anderes, für sich, für ihre Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin und für ihren Freund, mit dem sie seit einem Jahr zusammen ist. Den hätte Katharina fast wieder weggeschickt, weil sie dachte, neben Rinchen habe niemand mehr Platz in ihrem Herzen. So eingeschworen war das Kämpferpaar schon. Katharina hat sich einen Tunnelblick antrainiert, mit dem sie durchs Leben geht. Sie ignoriert alle Prognosen und Diagnosen und all die Menschen, die sie nicht verstehen wollen.„Eine Mutter gibt ihr Kind nicht ins Heim“, hörte sie von einer Sozialpädagogin; „das ist lebensunwertes Leben“, kürzlich von einer Ärztin.„Bei solchen Sprüchen höre ich weg“, sagt Katharina und lächelt. Sie verschleudert ihre Kraft nicht sinnlos. Sie braucht jedes bisschen davon. Katharina ignoriert alle Prognosen und Diagnosen und all die Menschen, die sie nicht verstehen wollen. „Das ist lebensunwertes Leben“, hörte sie kürzlich von einer Ärztin.

*Namen von der Redaktion geändert