Titli ist eigentlich kein Junge mehr, er wäre es aber gerne. Denn die Männer, die er kennt, sind aggressiv, kriminell und einsam. Seine älteren Brüder sind so, sein Vater ist so, seine Freunde sind es ebenfalls. Und im Verlauf von „Ein Junge namens Titli“ erweckt Regisseur Kanu Behl den Eindruck, ganz Indien sei so.

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cms-image-000045811.jpg (Foto: Rapid Eye Movies)
(Foto: Rapid Eye Movies)

Die Geschichte von Titlis Erwachsenwerden ist ein Anti-Bollywood-Film, statt greller Farben, ausufernder Tanzszenen und Happy End zeigt er ein tristes Land, viel Gewalt und Kompromisse. Und im Zentrum von allem ist Titli, dieser unsichere Mann-Junge, aus dem man einfach nicht schlau wird.

30.000 Rupien fehlen ihm für die Beteiligung an einem Parkhaus am Rande von Delhi. Wenn Titli das Geld hat, kann er seine Familie verlassen: seine zwei Brüder und seinen Vater, mit denen er in einer kleinen Wohnung in einem ärmlichen Teil der Stadt lebt. Die Mutter ist schon vor Jahren gestorben, an sie erinnert nur noch ein verstaubtes Bild an der Wand. Darum ist Titlis Zuhause ein Ort des Mann-sein-Müssens und der damit einhergehenden Hierarchien. Das Sagen hat der älteste Bruder: Wenn er Hunger hat, bringen ihm die anderen Essen. Wenn er sauer ist, lassen sich die anderen prügeln. Und wenn er einen Überfall plant, machen die anderen mit.

„Titli“, das ist Hindi für Schmetterling. Und tatsächlich ist der Protagonist zu zart für diese Männerwelt und zu schwach, um ihr zu entkommen. Aufbegehren kann er nur heimlich, seiner Familie von den Parkhausplänen zu erzählen – undenkbar. Deshalb fährt er den Fluchtwagen, als seine Brüder zwei Passanten blutig schlagen, um an Geld zu kommen. Und deshalb hält er die Klappe, wenn seine Brüder ihre Frauen wie Dreck behandeln. Was er eigentlich will, lässt sich nur an seinem Gesicht ablesen. Die Handkamera fährt oft nah heran und legt diese kindliche Mischung aus Hilflosigkeit und Aufbegehren offen. Eine „Was machen die da bloß?“-Mimik verleiht Schauspieler Shashank Arora seinem Titli dann. Dazu gibt es eine für den indischen Film untypische traurige Pianomusik.

Schließlich organisiert Titli die 30.000 Rupien und will verschwinden. Um ihn davon abzuhalten, verheiraten ihn die Brüder mit der selbstbewussten Neelu. Wenn sie sich ihrem Ehemann widersetzt, wird Titlis ambivalenter Charakter besonders deutlich. Dem wurde nämlich nie beigebracht, mit Frauen zu sprechen oder sie gar zu respektieren – er kennt nur die Methoden seiner Brüder. Doch während er die Hand an Neelus Kehle legt und sie zu Boden drückt, tritt wieder dieses Fragezeichen in sein Gesicht. Enttäuscht von sich selbst weicht er zurück und sagt leise: „Sorry.“ Es ist ein ständiges Changieren zwischen der Rolle des Mannes (Was würden meine Brüder tun?) und des Jungen (Wie werde ich nicht wie meine Brüder?).

Ein selten komplexes Männerbild

So riesig und traditionsreich Indiens Filmindustrie auch sein mag, so selten ist in ihr doch das Männerbild, das Regisseur Kanu Behl in seinem ersten Langfilm zeichnet. Denn wenn in Indien komplexe Charaktere behandelt werden, dann sind es in der Regel Frauen, die mit ihrem Schicksal hadern, wie in der „Elements“-Trilogie (1996–2005) der Filmemacherin Deepa Mehta. Behl traut sich also etwas, steht der Männerkosmos um Titli doch für die patriarchale indische Gesellschaft an sich, in der Gewalt gegen Frauen Alltag ist.

Der Film ist damit das Gegenteil von dem, was Bollywood bietet – auch optisch. Behls Kamerafahrten sind unruhig, die Kulissen farblos, und die Schauspieler sehen nicht aus wie Models. Daraus ergeben sich beinahe dokumentarische Bilder. Und dann ist da noch der beige Staub der Straßen Delhis, der sich wie ein Filter über das Geschehen legt.

Vieles bleibt in diesem Film jedoch unaufgelöst. Warum die Mutter tot ist. Wieso der Vater meist stumm in der Ecke sitzt und Fernsehen guckt. Und weshalb der mittlere Bruder so sehnsüchtig anderen Männern hinterhersieht. Aber manchmal wirkt das Unausgesprochene eben viel stärker – darum weiß Behl. Und zeigt auf diese Weise, dass Indien ein Land ist, in dem viele Wünsche verschwiegen werden müssen.

Christine Stöckel ist freie Journalistin in Berlin