Lew Tolstoi führte ein Leben voller Widersprüche: Er stammte aus uraltem russischem Adel und sah keine Veranlassung, auf Wohlstand und gesellschaftliche Privilegien zu verzichten, propagierte zugleich aber das einfache Leben und ließ sich auf seinem herrschaftlichen Gut gern in schlichter Bauernbluse und bei der Verrichtung körperlicher Arbeiten fotografieren. Er gründete eine Abstinenzlerbewegung, unterlief das selbst gesetzte Alkoholverbot jedoch regelmäßig. Er setzte in seinen Schriften die familiäre Harmonie über alles und führte doch mit seiner Frau jahrzehntelang einen zermürbenden Kleinkrieg.
Auf jeden Fall war Tolstoi nicht nur eine der schillerndsten, sondern auch eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts – und wurde mit seinen radikalen gesellschaftspolitischen Ideen zur maßgeblichen Inspirationsquelle für viele Reform- und revolutionäre Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Die Bauernfrage trieb Tolstoi früh um. Noch vor Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland 1861 unternahm er einen Versuch, seinen Bauern die Freiheit zu geben, und betätigte sich im Gefolge des Aufklärers Rousseau leidenschaftlich auf dem Gebiet der Volksbildung. Er gründete Dorfschulen und schrieb Lehrbücher für die Grundschule.
Tolstois berühmteste Romane sind „Krieg und Frieden“, der während der napoleonischen Kriege spielt und ein groß angelegtes Gesellschaftspanorama der damaligen Zeit bietet, und „Anna Karenina“, der anhand eines Ehebruchs- und Liebessujets in nicht minder breit angelegter Weise die Lebensweise und die Moralvorstellungen des russischen Adels reflektiert.
In seinen letzten Lebensjahrzehnten setzte Tolstoi sich intensiv mit religiösen Fragen auseinander und fiel, da er die Lehren Jesu eher anarchistisch als im Sinne der orthodoxen Kirche auslegte, bei Staat und Kirche in Ungnade. Tolstois Einfluss reichte weit über Russland hinaus. Gandhi zum Beispiel diente er als maßgebliches Vorbild.
Mehr aus der Reihe „Mitreden, obwohl ich das Buch nicht gelesen habe“:
Teil 1: Alexander Puschkin – der Nationaldichter
Teil 2: Nikolai Gogol – der Surreale
Teil 3: Fjodor Dostojewski – der Spieler
Teil 4: Lew Tolstoi – der Graf
Teil 5: Anton Tschechow – der Menschenfreund