Möwen kreischen, Badende laufen in die schaumbekränzten Wellen, Urlauber räkeln sich in der Sonne und schauen aufs Meer hinaus. Das ist das Bild, das viele Menschen mit der Nordseeinsel Sylt verbinden. Auch der 1957 entstandene Film „Urlaub auf Sylt“, eine Produktion der beiden legendären ostdeutschen DEFA-Dokumentarfilmer Annelie und Andrew Thorndike zeigt in seinen ersten Minuten diese heile Tourismuswelt. Dann kommt der damalige Bürgermeister von Westerland, Heinz Reinefarth, ins Bild. Der 53-Jährige blättert in seinem Büro Akten durch, spricht konzentriert mit einem Mitarbeiter.

Reinefarth hat ein kantiges Gesicht, die spärlichen Haare sind streng zur Seite gescheitelt, der Blick ist kühl und entschlossen. Ein kerniger Deutscher. Aber einer mit brauner Vergangenheit, die der 18-minütige DDR-Film schon vor mehr als einem halben Jahrhundert enthüllte. Dazu überblendet die Kamera das Gesicht des Bürgermeisters von Westerland mit einem Foto aus dem Jahr 1944, das ihn mit Ritterkreuz und in schwarzer SS-Uniform zeigt. Reinefarth, SS-Nummer 56634, war als Generalmajor der Waffen-SS für die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes im August 1944 verantwortlich. Die von ihm befehligten zwölf Polizeikompanien töteten mehr als 10.000 Zivilisten – Männer, Frauen, Kinder.

Für seine Kriegsverbrechen wurde der „Henker von Warschau“ nie zur Verantwortung gezogen. Zwei Ermittlungsverfahren gegen ihn wurden ohne Anklage eingestellt. Stattdessen beförderte ihn seine Partei, der  national konservative „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE), 1951 mit den Stimmen der CDU in das Amt des Westerländer Bürgermeisters, das der Kriegsverbrecher bis 1963 innehatte. 1958 wurde er sogar Landtagsabgeordneter in Kiel und damit der einzige ehemalige SS-General in einem deutschen Parlament.

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SS-General in Reetdachidylle: Heinz Reinefarth vor seinem Haus auf Sylt (Foto: Bundesarchiv)

SS-General in Reetdachidylle: Heinz Reinefarth vor seinem Haus auf Sylt

(Foto: Bundesarchiv)

„Die Leute haben ihn gemocht“

Auf Sylt hat man die Überblendung der beiden Leben des Heinz Reinefarth beharrlich verdrängt. Trotzig schwiegen die Inselbewohner, als die Westpresse 1957 über den DDR-Dokumentarfilm berichtete. Auch wenn in den folgenden Jahren westdeutsche Medien und ab und zu mal ein Politiker die SS-Vergangenheit des Bürgermeisters ansprachen, gab dies keinen Widerhall auf Sylt. „Reinefarth war freundlich und zugewandt, die Leute haben ihn gemocht“, erinnert sich Ernst-Wilhelm Stojan, der als SPD-Politiker und jahrzehntelanger Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt Westerland zum sozialdemokratischen Urgestein von Sylt gehört. „Er kümmerte sich, brachte den Ort voran. Man konnte sich bestens über Politik mit ihm unterhalten, aber wenn es um seine Vergangenheit ging, blockte er stets ab. Und kaum einer störte sich daran.“

Stojan war lange Zeit hindurch Bürgervorsteher von Westerland. Der heute 88-Jährige ist einer der wenigen, die noch zu Reinefarths Amtszeit gegen den Bürgermeister vorgehen wollten. Aber damals bekam er selbst von der eigenen Fraktion keine Unterstützung. Christoph Bornemann, Pastor in Westerland und Vorsitzender des dortigen evangelischen Kirchengemeinderats, hat Verständnis für die Verdrängungshaltung vieler Insulaner.

„Die Generation, der auch Reinefarth angehörte und die selbst vom Krieg traumatisiert war, schwieg aus Selbstschutz und vielleicht auch aus Scham über die eigene Mitverantwortung, der man sich nicht stellen wollte“, sagt Bornemann, der seit 27 Jahren auf Sylt lebt. „Da stellt man sich in einem so kleinen Ort wie Westerland nicht so einfach gegen Mitmenschen, zumal Reinefarth wegen seiner Taten ja nie juristisch zur Verantwortung gezogen wurde.“ Das bedeute jedoch nicht, dass alles vergessen war, weil man nie offen darüber sprach. „Der Umstand, dass ein Kriegsverbrecher so lange Bürgermeister von Westerland sein konnte, wurde hier immer als Makel empfunden“, sagt der 59-Jährige. „Das ist Common Sense auf Sylt.“

Eine Gedenktafel wird enthüllt – 70 Jahre später

Diesem Pastor und seiner Kirchengemeinde ist es jetzt aber auch zu verdanken, dass sich Sylt endlich öffentlich zu seiner Vergangenheit bekennt. Ihre Initiative hat dazu geführt, dass am Vorabend des 1. August am Westerländer Rathaus eine Gedenktafel enthüllt werden soll. 70 Jahre nach dem Beginn des Warschauer Aufstands, der unter Reinefarths Befehl blutig niedergeschlagen worden war, wird auf dieser Tafel in deutscher und polnischer Sprache der mehr als 100.000 Männer, Frauen und Kinder aus Polen gedacht, die damals von den deutschen Besatzern verletzt, geschändet und ermordet wurden. Und dann folgen die zwei Sätze, vor denen sich Sylt so lange gedrückt hat: „Heinz Reinefarth, von 1951 bis 1963 Bürgermeister von Westerland, war als Kommandeur einer Kampfgruppe maßgeblich mitverantwortlich für dieses Verbrechen. Beschämt verneigen wir uns vor den Opfern des Warschauer Aufstandes und hoffen auf Versöhnung.“

In Gang gebracht hat das späte Sylter Bekenntnis ein polnischer Hobbyhistoriker. Der Mann hatte einer Pastorin der Insel Anfang dieses Jahres einen Brief geschrieben und darin gefragt, ob sie wisse, was für ein Mensch der einstige Bürgermeister Reinefarth gewesen sei. Der polnische Bürger wollte auch wissen, welche Möglichkeiten es gebe, die Schuld des „Henkers von Warschau“ und das lange Schweigen der Insel über ihren Kriegsverbrecher aufzuarbeiten. „Wir haben im Kirchengemeinderat lange und intensiv über diesen Brief aus Polen diskutiert“, erzählt Pastor Bornemann. „Schließlich waren wir uns einig, dass der anstehende Jahrestag des Warschauer Aufstands ein guter Anlass sei, ein Zeichen des Bedauerns und der Versöhnung zu setzen.“

Zeitgleich mit der Einweihung der Gedenktafel soll im Westerländer Rathaus eine Wanderausstellung über deutsche NS-Verbrechen eröffnet werden. Für Pastor Bornemann ist die Aufarbeitung damit aber noch nicht beendet. „Auch der Landtag in Kiel sollte den Fall seines ehemaligen Abgeordneten Reinefarth zum Anlass nehmen, die eigene braune Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten“, sagt er. Tatsächlich waren die meisten Abgeordneten des schleswig-holsteinischen Nachkriegsparlaments im Dritten Reich Mitglieder der NSDAP. Selbst dem ersten Kabinett gehörte nur ein Minister an, der keine NS-Karriere gemacht hatte.Der Gemeinderat berief einen Arbeitskreis, dem neben den Fraktionsvorsitzenden auch Vertreter der Kirche, des Tourismusverbandes und ein Rechtsanwalt angehörten. „In einer unserer Beratungen haben wir auch mit einem Enkel von Heinz Reinefarth über das Thema gesprochen“, erinnert sich Gerd Nielsen, SPD-Fraktionschef im Westerländer Rathaus. „Die Familie lebt ja noch auf der Insel, und natürlich ist es für sie sehr schmerzlich, dass nun öffentlich auf die Kriegsverbrechen des Bürgermeisters hingewiesen wird. Aber darauf konnten und durften wir keine Rücksicht nehmen.“