Es laufen die letzten Gefechte des Zweiten Weltkriegs. Die Rote Armee steht vor Berlin, es ist nur noch eine Frage von Tagen, bis das Dritte Reich endlich Geschichte ist. Doch für die italienischen Zwangsarbeiter, die in einer Munitionsfabrik in Treuenbrietzen, 70 Kilometer südwestlich von Berlin, kaserniert sind, kommt die Rettung durch die Alliierten zu spät.
Am Nachmittag des 23.4.1945 wird eine Gruppe von 131 Arbeitern von Soldaten aus dem Lager geführt. Sie gehen in den Wald. Einige von ihnen müssen Kisten mit Munition schleppen. An einer Sandgrube sollen sie haltmachen. Dort werden sie von den Soldaten erschossen. Mit der Munition, die sie selbst dorthin getragen, ja womöglich selbst in der Fabrik hergestellt haben.
Es kommt einem Wunder gleich, dass vier Italiener dieses Massaker überlebten. Gut möglich, dass man ohne sie gar nicht wüsste, dass dieses Kriegsverbrechen stattgefunden hat. Bis heute ist unklar, wer genau dafür verantwortlich ist.
Die innovativ aufgemachte Webdoku „Im märkischen Sand“, die man frei im Netz anschauen kann, rekonstruiert nun die Ereignisse und schildert das schwere Erbe von Treuenbrietzen. Die 16 Episoden erzählen etwa von Antonio Ceseri, dem letzten Überlebenden von Treuenbrietzen, von einer Gruppe Schüler, die ihn zum Ehrenbürger ihrer märkischen Heimatstadt machen will, von Anwälten in Deutschland und Italien, die für eine Entschädigung der Zwangsarbeiter kämpfen. Das Beste an der gelungenen Webdoku: Sie zeigt mit ihren vielen kleinen narrativen Mosaiksteinchen exemplarisch, wie komplex Erinnerungskultur und Geschichtspolitik ist.
Noch heute bewegen die Ereignisse von damals die Gemüter. Da gibt es Schuldabwehr und Verdrängung, Täter-Opfer-Konflikte und lokale wie transnationale Kontroversen, an denen sich noch die zweite und dritte Generation abarbeitet.
Eindringlich sind die Passagen, die von dem Massaker selbst erzählen. Statt auf historisches Filmmaterial zu setzen, sind diese Kapitel wie in einer Graphic Novel illustriert. Eine gute Entscheidung der Macher. Die Bilder von Cosimo Miorelli bauen sich langsam auf, als würde man live beim Zeichnen zusehen. Auch die anderen, einzeln anklickbaren Kapitel heben sich wohltuend ab von dem immer gleichen Erzählstil historischer Fernsehdokumentationen, wo die Bildebene meist von „Talking Heads“ dominiert wird: Zeitzeugen und Experten im Wechsel, oft vor schwarzem Hintergrund, dazwischen grobkörnig-graue Originalaufnahmen mit dramatischer Musik. Anders als dieser Guido-Knopp-Stil verortet „Im Märkischen Sand“ seine Protagonisten meist in ihrem Alltag. Dabei entstehen bei aller Kürze prägnante Porträts.
Eine Geschichte, die „von unten“ erzählt wird
Im Grunde wird die Geschichte „von unten“ erzählt. Hier geben keine Historiker die Deutung vor. Vielmehr stehen Opfer, Zeitzeugen, Angehörige und Aktivisten im Vordergrund, die berichten, wie sie mit dem schweren Erbe leben. Dass man sich in Treuenbrietzen überhaupt an dieses dunkle Kapitel erinnert und jedes Jahr am letzten Sonntag im April ein Gedenktag stattfindet, zu dem auch Antonio Ceseri immer anreist, ist der Initiative zweier Lehrer aus Berlin zu verdanken. Gianfranco Ceccanei und Bodo Förster fanden eher zufällig eine Liste der Opfer und recherchierten, was aus den Überlebenden wurde.
Die Stärken des Formats hätte die Webdoku durchaus noch mehr nutzen können. An einigen Stellen kann man weiterführendes Material anklicken, etwa Zeitungsberichte, Fotostrecken, Interviews oder Urkunden, manchmal bleibt jedoch Bedarf an Vertiefungen. Etwa wenn es um unterschiedliche Geschichtsbilder geht. Der Leiter des Heimatvereins will auch die deutschen Soldaten und Zivilisten als Opfer gewürdigt wissen, die in den letzten Kriegstagen von der Roten Armee getötet wurden. Auf der anderen Seite steht der ehemalige Geschichtslehrer, der als Kind die Erschießung von Zwangsarbeitern gesehen hat, die ihn bis heute nicht mehr loslässt. Seine Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus ist den Eigentümern des Grundstücks wiederum ein Dorn im Auge.
Derartige Kontroversen durchziehen die deutsche Geschichte. Man denke nur an die Debatten rund um die Wehrmachtsausstellung in den 1990er-Jahren, die mit dem Mythos der aufrechten Wehrmacht aufräumte. Und sie sind offensichtlich noch längst nicht vorbei.
Die Webdoku „Im märkischen Sand“ wurde produziert von Katalin Ambrus, Nina Mair und Matthias Neumann. Gefördert wurde das Projekt unter anderem vom Auswärtigen Amt, der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft und der Landeszentrale für politische Bildung Brandenburg
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