"In Alice Springs, einem Netz verbrannter Wege, wo Männer in langen weißen Socken unaufhörlich in Landcruiser einsteigen oder aus Landcruisern aussteigen, begegnete ich einem Russen, der damit beschäftigt war, eine Karte von heiligen Stätten der Aborigines anzulegen. Sein Name war Arkady Wolschok. Er war australischer Staatsbürger. Er war dreiunddreißig Jahre alt."
Mit diesen Sätzen beginnt ein Reisebuch der besonderen Art – Bruce Chatwins 1987 veröffentlichter autobiographischer Roman "Traumpfade". Besonders ist es, weil darin nicht nur über eine Reise berichtet wird – in diesem Fall eine auf den Spuren der australischen Ureinwohner, der Aborigines, quer durch den Fünften Kontinent –, sondern weil Chatwin die Ursprünge des Reisens selbst erforscht. Er ahnt schon lange, dass es neben der Geschichte der menschlichen Zivilisation, die von Historikern maßgeblich als eine der Sesshaftigkeit gedeutet wird, noch eine andere, unruhigere gibt.
Und so sucht er zusammen mit Arkady Wolschok die "Traumpfade" der Aborigines. Wobei es der Titel der englischen Ausgabe, "The Songlines", genauer trifft: Songlines – das sind die zahlreichen unsichtbaren Nomadenwege ("Walkabouts"), die die Ureinwohner abschritten und teilweise noch heute abschreiten, während sie in Liedern die Erzählungen, Sagen und Schöpfungsmythen ihrer Ahnen wieder- und manchmal an den Nachwuchs weitergeben. Chatwin hatte sich das Ziel gesetzt, zu "verstehen, wie eine Songline funktioniert". Vor dem Reiseantritt sichtete er alle verfügbaren Berichte zum Thema, sprach aber auch mit Stammesältesten und Aborigines, die die Songlines noch begingen.
Unvollendetes Mammut-Projekt
Aber je länger er in Australien verweilt und je mehr er über die und von den Aborigines erfährt, desto mehr wandern seine Gedanken zu einem Projekt, das er eigentlich schon aufgegeben hat: die Geschichte der menschlichen Mobilität zu schreiben. Chatwins geplante "Anatomy of Restlessness", die "Anatomie der Ruhelosigkeit", wird so, wie er es plante, nie erscheinen. Doch einiges an Material und Grundlagen seiner Studien über das Nomadentum finden sich in den "Traumpfaden" wieder. Die Fahrt entlang der Songlines wird in dem Buch bald von seinen Erinnerungen an frühere Reisen, von anthropologischen Studien und Theorien sowie von Zitaten und Fragmenten aus der Reiseliteratur erst ergänzt, schließlich überlagert.
Plötzlich tauchen afrikanische Nomadenvölker, sumerische Wanderer oder mongolische Reiter auf, und wir wundern uns beim Lesen auch nicht mehr, wenn wir uns in der Frühphase der Menschheit in Afrika wiederfinden, Seite an Seite mit einem Geschöpf, das die Forscher "Australopithecus" nennen, eine Vorform des Homo Sapiens. Über den Australopithecus schreibt Chatwin: "Er war ein Tier, das gehen konnte und wahrscheinlich Lasten trug: aufrechtes Gehen, bei dem sich der Deltamuskel entwickelt, scheint das Tragen von Gewichten, wahrscheinlich von Nahrung und Kindern, von einem Ort zum anderen vorauszusetzen." Das Wandern ist des Menschen Lust, will der Autor sagen, in jedem von uns steckt noch irgendwo im Genpool ein Nomade.
Reiseliteratur ist Geschichtenerzählen
Man muss Chatwin nicht alles glauben. Vieles von dem, was er zum Beweis seiner Theorie des mobilen Menschen heranzieht, war wissenschaftlich schon zu seiner Zeit widerlegt oder wurde es kurz darauf. Anderes ordnet er selbst den Mythen, Legenden und Religionen zu, denen er zwar ein Existenzrecht, nicht aber Wirkungsmacht einräumt: "Mythos ist ein Angebot, Handlung ist Entscheidung."
Chatwin bereiste die Ränder der Zivilisation, ohne auf bestimmte Standards verzichten zu wollen. Selbst in der Wüste waren ihm Luxus und Kunst wichtig. In vielen seiner Texte finden sich Berichte über hervorragendes Essen und den Genuss von reichlich Alkohol. Sein Freund Salman Rushdie bescheinigte ihm in einem Nachruf ein Interesse "für alles, vom Ursprung des Bösen in der Welt bis hin zu der rätselhaften Frage des Kleinen Subaru*".
Von Sotheby’s in den Sudan
Chatwin war ein Dandy – allerdings kein typischer, eher ein Lebemann auf Reisen. Geboren 1940 in Sheffield und aufgewachsen in verschiedenen Orten Englands, landete er mit 18 Jahren als Botenjunge beim britischen Auktionshaus Sotheby’s, das er nur wenige Jahre später als Direktor der Abteilung für impressionistische Kunst wegen einer drohenden Erblindung wieder verließ. Ein Arzt riet ihm, zu reisen – und als er kurz darauf im Sudan eintraf, war sein Augenleiden verschwunden. Das wurde von Chatwin als "ein Zeichen" interpretiert.
1973 nahm ihn die britische Zeitung The Sunday Times unter Vertrag, zunächst als Kunstexperten, später als Reisejournalisten. Chatwin schickte Interviews, Berichte und Reportagen aus aller Welt nach London. Sein journalistischer Stil prägte auch die fünf Bücher, die er zu Lebzeiten schrieb – was den drei Romanen "Der Vizekönig von Ouidah", "Utz" und "Auf dem schwarzen Berg" nicht besonders gut bekam.
1989 starb Chatwin an Aids – und mit ihm ein Reiseschriftsteller, der von seinem Handwerk mehr verstand, als seitenlang nur Landschaften zu beschreiben und schrullige Einwohner zu Wort kommen zu lassen. Ein Zeugnis seines Könnens ist der Reisebericht "In Patagonien", ein anderes sind die "Traumpfade". Aufmerksame Leser/innen erfahren hier nicht nur viel über Australien, die Wanderungen der Aborigines und den Beginn der menschlichen Mobilität, sondern ihm oder ihr offenbaren sich ganz nebenbei auch noch sehr schöne Einblicke in die bewegte Welt des Menschen Bruce Chatwin.
Bruce Chatwin: Traumpfade (S. Fischer Verlag 1992, übers. von Anna Kamp, 400 S., 9.95 €)
Mehr Reiseliteratur von Bruce Chatwin
In Patagonien: Reise in ein fernes Land (Rowohlt 1990, übers. von Anna Kamp, 272 S., 8.99 €)
Was mache ich hier (S. Fischer 2007, übers. von Anna Kamp, 400 S., 9.95 €)
Der Traum des Ruhelosen (S. Fischer Verlag 2004, übers. von Anna Kamp, 256 S., 8.90 €)
*Subaru: japanische Automarke, berühmt für seine Kleinwagen mit Allradantrieb und Boxermotoren