Bürgermeister Vadim (Roman Madyanov) kann kaum noch stehen. Der Wodka lässt ihn schielen und schwanken. Er lallt. Einzig durch die giftige Aggressivität seiner Stimme ist zu verstehen, was er sagen will: „Du Ratte hattest nie Rechte, du hast jetzt keine und wirst auch nie welche haben!“ Die Worte gelten Kolja (Aleksey Serebryakov), einem Automechaniker, der seit Monaten im Streit mit dem Bürgermeister liegt. Der Politiker hat es auf das Grundstück abgesehen, das Koljas Familie schon seit Generationen bewohnt. Warum er enteignet werden soll, weiß Kolja nicht. Aber das örtliche Gericht stützt das Vorgehendes Bürgermeisters mit einem fragwürdigen Urteil.

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cms-image-000045032.jpg (Foto: Mongrel Media)
(Foto: Mongrel Media)

Der russische Staat, das ist im Film „Leviathan“ keine Gemeinschaft von Menschen, die das Recht des Einzelnen respektiert und gemeinsam ein höheres Ziel anstrebt. Hier kommt der Staat wie eine allmächtige Macht über den ohnmächtigen Einzelnen und zermalmt ihn, so unabwendbar wie das Schicksal. Es gibt kein Entkommen, erst recht kein Mitleid. Der Staat war schon immer da, nur in verschiedenen Verkleidungen: Zarenreich, Sowjetunion, neoliberale Gegenwart. Von Ewigkeit zu Ewigkeit herrscht er über die Menschen, so wie die Wellen der eiskalten Barentssee schon und für immer an die stoisch dastehenden Felsen der russischen Nordküste branden.

So zeigt Regisseur Andrei Swjaginzew in „Leviathan“ sein Land. Der Film ist ein epischer, dunkler Monolith – und das größte filmische Meisterwerk aus Russland seit Jahren. Swjaginzew dekliniert den finsteren Satz von Bürgermeister Vadim bis zur bitteren letzten Konsequenz durch: „Du Ratte hattest nie Rechte, du hast jetzt keine und wirst auch nie welche haben!“ Keine der Figuren wird ihrem Schicksal, also dem Staat, entgehen. 

Das zu verraten nimmt „Leviathan“ kein bisschen seiner Spannung, denn die Charaktere sind ähnlich in ihrem Schicksal gefangen wie die Figuren des antiken griechischen Dramas. Sein eigener Untergang ist Kolja von Anfang an klar. Trotzdem kämpft er. Gegen die juristische Enteignung will er mit Hilfe seines alten Freundes Dmitri (Wladimir Wdowitschenkow) vorgehen. Der arbeitet im fernen Moskau als Anwalt und ist im Besitz eines Dossiers, das die kriminelle Vergangenheit des Bürgermeisters beweist. Tatsächlich gelingt es Dmitri, Vadim einzuschüchtern. Die beiden vereinbaren ein Treffen, bei dem Kolja zumindest mit einer ihm zustehenden Summe für sein Grundstück entschädigt werden soll. Doch dann geben zwischenmenschliche Verwicklungen der Geschichte eine weitere tragische Wende – und auch Vadim schlägt unerwartet und erbarmungslos zurück.

Swjaginzew erzählt diese Geschichte wie einen wuchtigen Thriller, der seine Kraft aus der Reibung zweier Erzählebenen zieht. Da ist einerseits die Schilderung des Alltags in der russischen Provinz. Korruption ist an der Tagesordnung, Kolja muss ständig kostenlos das Auto des Polizeichefs reparieren. Die Frauen schuften in einer stinkenden Fischfabrik. Die russisch-orthodoxe Kirche macht bei der Ausbeutung der Menschen mit den Herrschenden gemeinsame Sache. Im Gerichtssaal rasselt die Richterin unablässig ihr Urteil herunter, der Regisseur inszeniert dies mit einem langen Zoom. Möglichkeit zum Einspruch: keine. Der Suff ist der einzige Ausweg aus dieser Trostlosigkeit, die nächste Wodkaflasche nie weit entfernt.

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cms-image-000045035.jpg (Foto: Mongrel Media)
(Foto: Mongrel Media)

Diese sehr konkrete Alltagsgeschichte überwölbt Swjaginzew mit philosophischen und mythologischen Verweisen. Koljas Geschichte wird mit der des Hiob aus dem Alten Testament gleichgesetzt, und der Regisseur macht sich Thomas Hobbes’ Kritik am Gemeinwesen zu eigen, der in seinem Werk „Leviathan“ von 1651 den Staat mit einem mythologischen Seeungeheuer verglichen hatte. Swjaginzew sagt: „Der verständnisvolle Wunsch, Sicherheit im Tausch gegen Freiheit zu erlangen, ist des Menschen einziger wahrer Besitz.“ Im Angesicht der gewaltigen, unbeteiligten Natur, die er in mächtigen Einstellungen einfängt, erscheint das Aufbegehren des Menschen gegen die immer gleichen Machtverhältnisse sinnlos. Davon scheint auch das riesige Skelett eines Wals zu erzählen, das in Koljas Heimatort am Strand der Barentssee liegt.

So wird aus „Leviathan“ eine überzeitliche Parabel, die sich ganz allgemein auf das Verhältnis zwischen Mensch und Staat anwenden ließe. Tatsächlich betont Swjaginzew, dass er für seine Geschichte während eines Aufenthaltes in den USA von einem wahren Vorfall inspiriert wurde: 2004 war in Colorado ein Mann aus Wut über einen Konflikt mit der Stadtverwaltung mit einem Bulldozer Amok gelaufen. Swjaginzew wollte den Film auch zunächst dort realisieren. Dennoch ist seine deutliche Kritik an den konkreten russischen Zuständen in seiner Heimat angekommen. Und sie stößt bei der offiziellen Politik auf wenig Verständnis, im Gegenteil: Zwar wurde „Leviathan“ mit Geldern des russischen Kultusministeriums gefördert. Dennoch wendete sich Kultusminister Wladimir Medinski mit deutlichen Worten gegen den Film und seinen Regisseur. Er hielt Swjaginzew vor, keine seiner Figuren ähnele den wahren Russen – und er selbst laufe über rote Teppiche und spucke Russland ins Gesicht. 

Einige der wenigen unabhängigen Kommentatoren in Russland schrieben, die Aufregung rund um den Film erzähle mehr über die dortigen Verhältnisse als der Film selbst. So hatte ausgerechnet der internationale Erfolg von „Leviathan“ – er war für einen Oscar nominiert, gewann den Drehbuchpreis beim Filmfestival von Cannes und einen Golden Globe als bester ausländischer Spielfilm – ernste Konsequenzen für die Freiheit der Kunst. Im Juli 2014 verabschiedete die Duma ein Gesetz, das „obszöne Sprache“ verbietet. Auch aus diesem Grund lief „Leviathan“ erst am 5. Februar mit monatelanger Verspätung in den russischen Kinos an. Natürlich in einer „bereinigten“ Fassung. 

Allerdings haben sich viele Russen den Film in seiner Originalversion schon aus dem Internet heruntergeladen. Der Produzent von „Leviathan“ gibt an, allein in den ersten 24 Stunden nach dem Golden-Globe-Gewinn am 11. Januar seien die illegalen Downloads auf 30.000 angeschwollen. Deshalb kann Swjaginzew der staatlichen Propaganda und Repression zum Trotz sagen: „Es ist heute noch möglich, meinen Landsleuten solche Fragen zu stellen und einen tragischen Helden in unserem Land zu finden. Genau dies ist der Grund, warum meine Heimat für mich noch nicht verloren ist – ebenso wenig wie für jene, die diesen Film gemacht haben.“