Manche Typen liegen immer richtig: mit dem, was sie sagen, mit dem, was sie tragen, mit dem, was sie haben. Manche Typen liegen immer falsch. Sie sind blind gegenüber den Gesetzen, die andere gemacht haben – den Gesetzen des Hip, die darüber entscheiden, wer geachtet wird und wer nicht. Mein Schulkollege Bastian Schultz war so ein Typ, der immer falsch lag. Mitte der Achtziger teilten wir uns an einem Hamburger Gymnasium einen Tisch. 

Bastian war weder ein Arsch noch ein Dummkopf, hatte aber trotzdem einen schweren Stand in der Klasse. Er war sehr blass, hatte auf der Nase eine Warze, sein Haar war so hellblond, fast weiß. Seine Mutter hatte ihn erst spät bekommen; beide älteren Brüder, die Bastian sonst gehabt hätte, waren früh gestorben. Als er in die Mittelstufe kam, waren seine Eltern fast Greise. Ziemlich genau so kleideten sie ihn auch: Während die meisten von uns mit ihren Marc-O-Polo-Pullis, Boss- Polohemden und Bootsschuhen aussahen, als seien sie Golfprofis oder wären bei der Sparkasse angestellt, lief Bastian in Cordhosen, Mephisto- Schuhen und C&A-Hemden herum. In einer Zeit, in der Fünfzehnjährige mit Samsonite-Aktenkoffern in die Schule kamen, wirkte er wie ein Rentner. Das war dann auch sein Spitzname, mit dem die Klasse ihm hinterherschrie. »He, Bastian – reicht die Pension, auch wenn man nie gearbeitet hat?«  »He, Bastian – stimmt’s, dass du umsonst in den Zoo und ins Museum darfst?« »He, Bastian – heute ganz ohne Krücken?« Er ertrug es, recht lang. Er versuchte so zu tun, als störte es ihn nicht. Er versuchte besonders schlau und gebildet (Bibelzitate, die keiner kannte, oh no!) zu kontern. Er versuchte so zu tun, als höre er all das nicht.

Selbst Steffi, die sonst Opfer No.1 war, musste schallend lachen

Dann aber, eines Tages, entschied er, dass nun Schluss sein müsse. Ich glaube, es war wegen der Mädchen. Er wollte vor ihnen nicht länger der Geprügelte sein. Irgendwie war es ihm gelungen, seine Eltern zu überreden, ihn vom Beamtengehalt seines Vaters bei Peek & Cloppenburg in der Innenstadt frisch einzukleiden, einen ganzen langen Samstag lang. So stand er eines Montagmorgens in Boss-Jeansjacke, gelbem Lacoste-Polohemd, Edwin-Jeans und Saks-Slippern vor uns. Auch einen Aktenkoffer trug er bei sich, wenn auch nicht von Samsonite. Ein neuer, hipper Bastian. Nie wieder im Leben, auch später nicht, habe ich so ein schallendes Gelächter gehört.

Selbst Steffi Müller, die Dicke mit den Pusteln im Gesicht, die sonst Opfer No. 1 war, konnte sich kaum auf dem Stuhl halten. Es war ein brutales soziologisches Schauspiel, eine Art gesellschaftliche Hinrichtung. Bastian hatte alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte: Er hatte sich vom Druck der Klasse besiegen lassen und seine Identität aufgegeben. Mag sein, dass er nach damaligen Standards die »richtigen«, also statusversprechenden Kleider trug – an ihm aber wurden sie zu »falschen«, statusvermindernden Kleidern. Weil Status nie verzweifelt daherkommen darf, wenn er funktionieren soll – sondern immer lässig und selbstverständlich und selbstgewählt. Bastian wurde ein anderer, nachdem das passiert war; nachdem er versucht hatte, um jeden Preis dazuzugehören. Ein paarmal zog er die Kleider noch an, wohl seinen Eltern zuliebe, dann aber, als er älter wurde, trug er nur noch Schwarz, wie Johnny Cash. Er fing an zu rauchen, traf sich nur noch mit Außenseitern und trank so viel Bier, dass er einen Wabbelbauch bekam. Er las Enzensberger und schrieb Gedichte, eins davon, ein ganz düsteres, wurde sogar mal auf einem Schulfest verlesen. Das Letzte, was ich von ihm hörte, war, dass er so eine Art Underground-Boheme für sich ausprobierte. Ich weiß nicht, wie’s ihm heute geht, ob er Geld hat oder eine Frau und Kinder, aber wenn man ein bisschen romantisch veranlagt ist, kann man’s natürlich auch so sehen: Nachdem Bastian den Status-Krieg verloren hatte, wurde er cool.

Marc Fischer (36) wohnt mittlerweile in Berlin, wo es nicht ganz so wichtig wie in Hamburg oder München ist, was man trägt.