Immer wenn die französischen Nerven flattern, erzählt jemand die Geschichte von Asterix. Dann wird ganz Frankreich zum bedrohten Dorf, drumherum eine ganze Welt mit einer ganz anderen, aggressiven Kultur, die nur davon träumt, sich auch den kleinen Rest einzuverleiben. Das sind heute nicht mehr die Römer – obwohl vor einigen Jahren, als Silvio Berlusconi im großen Stil französische Sender kaufen wollte, auch die noch als feindliche Großmacht dargestellt wurden. Das war auch nie, wie in der westdeutschen Provinz meiner Jugend „der Russe“, nein: Die Bedrohung ist amerikanisch und hat zwei Köpfe, die zugleich das französische Essen und die französische Sprache bedrohen.

Im letzten Jahr war es der umstrittene Autor Eric Zémmour, der in seiner „Mélancolie Française“ das Bild eines von der Globalisierungskultur belagerten Landes zeichnete und prompt einen Verkaufserfolg landete. In Interviews beklagte er einen umfassenden und kaum aufzuhaltenden Verfall der sprachlichen Kompetenz, der alle Schichten erfasst habe. Nicht nur würden Wissenschaftler, Journalisten und Spitzenpolitiker ins Englische abwandern, gerade auch die sogenannten einfachen Franzosen würden von den Privatsendern mit anglophonem Sprachmüll verwirrt, sodass bald kaum noch jemand anständig französisch sprechen werde. Zémmour schießt bei solchen Themen gern mal über das Ziel hinaus, redet sich in Rage und nutzt dann seine schöne Sprache, um schlecht zu reden – vor allem über Araber und Afrikaner. Ihm stehen harte Zeiten bevor, denn es leben nun deutlich mehr französisch sprechende Menschen außerhalb als innerhalb Frankreichs: 220 Millionen Menschen sind, nach einer recht umfangreichen Untersuchung aus dem vergangenen Jahr, frankophon, doch es gibt nur 65 Millionen Franzosen. Zentrum der Frankophonie ist demnach Afrika, wo Monsieur Zémmour zufolge vorwiegend Drogendealer herkommen.

Die Tirade über das untergehende Französisch ist so alt wie Frankreich selbst. Dabei wird nirgends so viel getan, die eigene Sprache zu hegen und zu pflegen. Das Französische ist nicht bloß die Basis der staatlichen Einheit, es übertrifft den Staat an identitätsstiftender Wirkung und Beliebtheit. Franzosen sind notorisch anarchistisch gesinnt. Die Republik und ihre Institutionen werden gerne in Anspruch genommen, aber noch lieber kritisiert und durchaus auch in bürgerlichen Kreisen durch kleine Tricks hintergangen. Mit der Sprache ist das anders, die erst macht den haarlosen Zweibeiner zum Menschen: Für die meisten Franzosen ist kaum eine größere Peinlichkeit vorstellbar, als öffentlich eines Grammatikfehlers überführt zu werden. Und als vor einiger Zeit die linksanarchistischen Theoretiker des „Kommenden Aufstands“ ihr Manifest veröffentlichten, galt ihre größte Sorgfalt dem sprachlichen Ausdruck. Es ist in einem radikal modernen, an den Texten Michel Houellebecqs geschulten Französisch verfasst.

Das Französische wird durch eine ganze Reihe von Institutionen überwacht und geschützt, von denen die „Académie française“ nur die bekannteste ist. Einflussreicher ist vielleicht die Sprachabteilung im Kulturministerium, in der 28 Experten, die meisten davon Universitätsprofessoren, über aktuelle und strittige Fragen der Orthografie befinden sowie Schulbücher und Prüfungsergebnisse auswerten. Es ist so etwas wie eine permanent tagende Rechtschreibreformkommisssion. Daneben gibt es die Organisation für die Pflege der Frankophonie, ein internationales Gremium, das sich auch gerne mit der Rückübersetzung englischer Begriffe befasst, was der gute Franzose also statt buzz sagen könnte – „ramdam“ zum Beispiel, darauf kam eine Gruppe Jugendlicher mit Migrationshintergrund, die für ihre Idee ausgezeichnet wurden: Damit entstand eine lautmalerische Beschreibung des nächtlichen Schwätzens während des Ramadans, wenn alle draußen sitzen und essen. Schon in früheren Jahren wurde aus dem Computer, der in allen möglichen Sprachen seinen Dienst versieht, der „ordinateur“ und aus der SMS „le texto“, aus der E-Mail „le courriel“.

Das Spielen mit der Sprache ist ein zentraler Bestandteil der französischen Jugendkultur, der auch von etablierten Intellektuellen mit Interesse verfolgt wird. Es gehört einfach dazu, als Franzose auch neue Sprachmoden zu kennen. In einem seiner späten Interviews gab sich der ehemalige Staatspräsident François Mitterrand als versierter Kenner aktueller Jugendsprache -– da wusste die staunende Öffentlichkeit freilich noch nicht, dass er zu Hause eine junge, außerhalb der Ehe geborene Tochter hatte, die so sprach. Heute ist diese Tochter, Mazarine Pingeot, natürlich Schriftstellerin von Beruf, denn kaum eine Karriere erfüllt eine französische Familie mit so viel Stolz wie die literarische.

Der angesehenste Beruf ist der des Literaten

Der zentrale, fast neurotische Stellenwert der Sprache rührt natürlich von einem Minderwertigkeitskomplex her: Zwar ist Frankreich schon eine ganze Weile länger vereint als Deutschland, etwa seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, aber diese Vereinigung ist auch nur oberflächlich. In Wahrheit spielt sich das französische Leben, auch das Gedächtnis der Familien, zum großen Teil in der eigenen Provinz, im „pays“ ab, mit seinen lokalen Dialekten, Spezialausdrücken und landwirtschaftlichen Fachbegriffen. Die wesentliche Arbeit eines Lehrers in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bestand darin, den Kindern Französisch beizubringen, wobei er sich einer Klasse von anderssprachigen Schülern gegenübersah, fast wie in einer Banlieue – also einer Vorstadtsiedlung – heute. Die Kleinen sprachen zu Hause alle eine Sprache, die damals als unkultiviert und bäuerisch verächtlich gemacht wurde – zum Beispiel Bretonisch oder Okzitanisch – und von manchen heute durchaus gepflegt wird.

Das Nebeneinander einer regionalen und familiären Identität und einer schulischen und professionellen findet sich, leicht abgeschwächt, heute noch. In Wahrheit sind Sprachtests in Frankreich auch deswegen so angstbesetzt, weil sie die geheime andere Identität zu lüften drohen und aufzeigen, dass der wichtige Mann aus Paris eigentlich auch mal als Provinztrottel angefangen hat. Der Stolz auf die regionale Herkunft und Identität ist für eine nationale Karriere eher hinderlich und bleibt Politikern in der zweiten Reihe oder Außenseitern vorbehalten.

Dabei führen der Sprachwahnsinn und die Neurosen à la Zémmour dazu, dass gerade in den Provinzen der Sinn für lokale Sprachen wächst. Immer wieder gibt es auch zaghafte Versuche, andere Sprachen als das Französische in Frankreich durch staatliche Programme zu pflegen, aber es ist ein politisch heikles Thema. Dabei ist gerade einer der Säulenheiligen aller Liebhaber der französischen Literatur und Gedankenwelt, der Philosoph Michel de Montaigne (1533 bis 1592), ein Beispiel für die Schönheit der sprachlichen Mannigfaltigkeit. In seiner näheren Umgebung wurde nur Okzitanisch gesprochen, von den Landarbeitern und den am väterlichen Hof beschäftigten Frauen. Seine erste Sprache war aber weder Okzitanisch noch Französisch, sondern Latein, das seine Eltern mit ihm sprachen und sein erster Hauslehrer. Selbst die Dorf bewohner, schreibt Montaigne in manchen Texten, konnten mit der Zeit ein wenig Latein und sprachen es mit den Kindern. Montaigne kannte auch noch keine Orthografie, sondern schrieb, wie er sprach. Die Einflüsse fremder Sprachen, insbesondere des Griechischen und des Lateinischen, sind in den „Essais“ unverkennbar und tun dem Werk gut. Insofern ist Sprachreinheit unter Berufung auf Montaigne nicht zu haben, die Faszination am Spiel mit der Sprache hingegen schon. Wer beispielsweise als Deutscher in Paris wirklich beeindrucken will, sollte sich daher ruhig zu Fehlern und einem Akzent bekennen. Erstens merkt man es im Französischen immer, noch die kleinste Abweichung, zweitens gibt es den französischen Komplex, keine Fremdsprachen, insbesondere kein Deutsch, zu können. Dabei gilt das auch in Frankreich als die Sprache der wirklichen Denker. Oft reicht es, fehlerfrei die Namen Thomas Bernhard oder Georg Friedrich Wilhelm Hegel aussprechen zu können, um als Gelehrter zu gelten.

Umso beeindruckender ist es, wenn ein Deutscher sich mit dem Französischen abkämpft. Und als publizistisches Symbol für einen souveränen Umgang mit Sprache sei dem Parisbesucher der Erwerb der „Canard Enchainé“ (übersetzt: die angekettete Ente) empfohlen, einer wöchentlichen satirischen Zeitung, die selten von Ausländern, aber immer von Insidern gelesen wird. In diesem Enthüllungsblatt, das ohne eine einzige Anzeige auskommt, wird ein respektloser und betont frecher Umgang mit dem Hochfranzösischen gepflegt. Jeder Politiker kriegt einen, möglichst drastischen Spitznamen verpasst, jeder krasse umgangssprachliche Ausdruck findet Verwendung. Es reicht, das Blatt gut sichtbar aus einer Tasche herausragen zu lassen, schon wird man deutlich besser behandelt. Denn das gilt in Paris als die allerhöchste Form der Beherrschung der französischen Sprache: sich um Korrektheit gar nicht mehr zu scheren.

Beschütze miesch!

Um Französisch gegenüber den Regionalsprachen durchzusetzen, wurde es um 1880 als einzige Schulsprache festgelegt. Noch 1925 sprach der damalige Bildungsminister Anatole de Monzie davon, dass das Bretonische „für die sprachliche Einheit Frankreichs verschwinden müsse“. Anfang der siebziger Jahre erklärte Staatspräsident Pompidou, dass es in einem Frankreich, das Europa prägen wolle, keinen Platz für Regionalsprachen gebe. Seit 1994 verbietet das „Gesetz über den Gebrauch der französischen Sprache“ englische Werbesprüche ohne eine französische Übersetzung. Ein anderes Gesetz aus dem Jahr 2000 regelt, dass im Radio mindestens 40 Prozent der Lieder französischsprachig sein müssen.