Kolonie Blumenau: Oktoberfest in Brasilien
Wenn in der südbrasilianischen Stadt Blumenau, gelegen zwischen grünen Hügeln im Tal des Rio Itajaí, in jedem Oktober „Ein Prosit der Gemütlichkeit“ erklingt und Tausende Menschen in Lederhosen und Dirndln durch die Straßen ziehen, könnte bei Besuchern einen Moment lang Zweifel aufkommen, ob sie wirklich noch in Lateinamerika sind.
Das Oktoberfest in Blumenau ist eins der großen Volksfeste Brasiliens. Die Touristen trinken Weißbier, essen Sauerkraut und Würstchen. Deutschland-Folklore wie aus dem Lehrbuch, inklusive Altstadtgassen mit Fachwerkfassaden. Und all das, weil im Jahr 1850 der deutsche Apotheker Hermann Blumenau aus Hasselfelde im Harz eine Idee hatte: mit Handwerkern und Bauern eine deutsche Kolonie in Brasilien zu gründen, die seinen Namen trägt.
Mitte des 19. Jahrhunderts haben die industrielle Revolution und ihre Folgen längst auch Deutschland erfasst. Jene, die nicht davon profitieren, versucht Blumenau zur Auswanderung zu bewegen. Am 2. September 1850 gründet er mit 17 deutschen Siedlern die Kolonie Blumenau. Aber zunächst läuft die Sache nicht nach Plan.
Der Itajaí führt immer wieder Hochwasser. Indios überfallen die weißen Eindringlinge. „Alle meine Hoffnungen sind zerschmettert“, schreibt Blumenau, als er einmal besonders verzweifelt ist. Weil er die Siedler nicht im Stich lassen kann, versucht er in den Folgejahren alles, um seinen Plan noch zum Erfolg zu bringen. Und findet in Rio einen wichtigen Helfer: Der brasilianische Kaiser Peter II. unterstützt die deutsche Kolonie ab 1860 auch finanziell, sodass sich die Lage verbessert. Blumenau gilt als eine Art Mustersiedlung, und der brasilianische Staat übernimmt die Verwaltung der Kolonie.
Bis nach dem Ersten Weltkrieg spielen in Blumenau deutsche Sprache, Traditionen und Kultur eine tragende Rolle. Das ändert sich im Laufe der 1930er-Jahre und spätestens, als Brasilien 1942 aufseiten der Alliierten in den Zweiten Weltkrieg eintritt: Die Regierung ersetzt deutsche Ortsbezeichnungen durch portugiesische und lässt deutsche Schulen schließen. Deshalb ist Blumenau mit seinen knapp 300.000 Einwohnern heute fast eine brasilianische Stadt wie viele andere.
Rattenlinie: die Fluchtroute der Nazis
Der Zweite Weltkrieg hat auch in einem Nachbarland weitreichende Folgen. Als Juan Perón im Jahr 1946 zum Präsidenten Argentiniens gewählt wird, verspricht er eine glorreiche Zukunft. Argentinien soll sich emanzipieren: vom Kapitalismus der USA genauso wie vom Kommunismus der Sowjetunion. Dabei sollen ihm auch jene helfen, die während des Zweiten Weltkriegs Tod, Leid und Zerstörung über die Welt gebracht haben
Einer von ihnen geht am 20. Juni 1949 im Hafen von Buenos Aires von Bord des Schiffes „North King“. Helmut Gregor, besser bekannt unter seinem richtigen Namen: Josef Mengele. Der KZ-Arzt von Auschwitz, der Hunderttausende in den Gastod geschickt und unter dem Vorwand der Wissenschaft Tausende andere gequält und getötet hat. Wie andere Nazis war er über die sogenannte „Rattenlinie“ entkommen, eine weit verzweigte Fluchtroute mit Klöstern als Zwischenstationen, die insbesondere von Angehörigen der katholischen Kirche, Geheimdienstlern, Spionen und ehemaligen SS-Leuten als Fluchthelfer betrieben wurde.
Bereits während des Zweiten Weltkriegs war das offiziell – bis kurz vor Kriegsende – neutrale Argentinien für die Nazis eine Art Brückenkopf in Südamerika gewesen. Hier besorgten sie sich Devisen und Rohstoffe und schlugen ihr regionales Geheimdienst-Hauptquartier auf. SS-Verbrecher wie Mengele fanden in der Hauptstadt Argentiniens ein etabliertes deutsches Netzwerk vor.
Geldprobleme hatte Mengele keine, seine Familie im bayerischen Günzburg unterstützte ihn weiterhin. 1956 reiste Mengele in die Schweiz und nach Deutschland, beantragte bei der westdeutschen Botschaft in Buenos Aires sogar einen Reisepass auf seinen echten Namen. Die mit Wirtschaftswunder und Wiederaufbau beschäftigte Bundesrepublik machte in den Nachkriegsjahren keine Schwierigkeiten: Ein Haftbefehl gegen ihn lag nicht vor.
Das änderte sich erst Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre, als die juristische Aufarbeitung von Auschwitz begann und die Taten Mengeles in den Fokus deutscher Gerichte gerieten. Als 1960 Adolf Eichmann, einer der Hauptorganisatoren des Holocaust, vom israelischen Geheimdienst Mossad von Argentinien nach Israel entführt, in Jerusalem vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt wurde, bekamen es Mengele und andere Nazis mit der Angst zu tun.
Mengele flüchtete nach Paraguay und weiter nach Brasilien – in der Furcht, doch noch gefunden und gefasst zu werden. Am 7. Februar 1979 starb er im brasilianischen Bertioga im Alter von 67 Jahren beim Baden im Meer, wahrscheinlich an einem Schlaganfall.
Eine Sekte mit Sklavenarbeit und Missbrauch: die „Kolonie der Würde“
Achtzehn Jahre früher, im Jahr 1961, entzieht sich ein anderer Deutscher der Strafverfolgung, indem er nach Lateinamerika geht. In Deutschland hat Paul Schäfer eine christliche Sekte gegründet und betreibt ein Kinder- und Jugendheim. Als die Staatsanwaltschaft Bonn wegen des Verdachts der Vergewaltigung zweier Jungen einen Haftbefehl gegen Schäfer erwirkt, flüchtet er mit rund 300 Anhängern in einem Charterflugzeug nach Chile.
Nahe der Stadt Parral, 320 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago, baut er in den kommenden Jahren die Colonia Dignidad auf, die „Kolonie der Würde“. Eine Bezeichnung, die zynischer nicht hätte sein können. Auf dem riesigen Gelände der Colonia Dignidad – abgeriegelt von der Außenwelt mit Stacheldraht, Bewegungssensoren und Schäferhunden – besteht unter Schäfers Führung mehr als 30 Jahre lang ein brutales Terrorregime, vom chilenischen Staat als steuerbegünstigte Wohltätigkeits- und Erziehungseinrichtung anerkannt: Schäfer zwingt die Sektenmitglieder bereits von früher Kindheit an zu Sklavenarbeit, lässt Kinder und Erwachsene mit starken Psychopharmaka gefügig machen, vergewaltigt zum Teil mehrmals täglich Jungen und lässt den ab 1973 regierenden chilenischen Diktator Augusto Pinochet in der Kolonie politische Gegner einsperren, foltern und umbringen.
Schäfer und die Führungsriege der Sekte haben gute Kontakte zur Botschaft und zum Auswärtigen Amt. Obwohl unter anderem Amnesty International bereits in den 1970er-Jahren schwere Vorwürfe gegen die Colonia Dignidad erhebt, können der Sektenführer und seine Mittäter bis weit in die 1990er-Jahre weitgehend ungestört agieren.
Auch nach dem Ende der Pinochet-Diktatur 1990 und Ermittlungen der chilenischen Behörden kann sich Schäfer noch bis 1997 in der Colonia aufhalten. Im selben Jahr flüchtet er nach Argentinien. Erst im März 2005 wird er aufgespürt, nach Chile ausgeliefert und zu mehr als 20 Jahren Haft verurteilt. Er stirbt 2010 in einem Gefängniskrankenhaus in Santiago.
Vollständig aufgeklärt sind die Verbrechen bis heute nicht. Chilenische Ermittler suchen immer noch nach Überresten verschwundener Pinochet-Gegner. Eine Entschädigung haben Opfer und Angehörige bis heute nicht vom chilenischen Staat erhalten. Im Jahr 2018 beschloss der Bundestag, im Bundeshaushalt 2019 zunächst eine Million Euro für die Entschädigung der Opfer bereitzustellen. Bis zu 10.000 Euro pro Person soll es geben.
Auf dem Gelände der Colonia Dignidad, die jetzt „Villa Baviera“ heißt (wörtlich übersetzt: Dorf Bayern), gibt es heute ebenfalls ein Oktoberfest, bei dem Touristen und Einheimische Weißbier trinken, Würstchen essen und sich an bayerischer Volkstümlichkeit erfreuen – wo einst Menschen gefoltert wurden.