Wenn Russen weniger iPads kaufen, geht es Arbeitern in Hamburg schlecht. Besuch in einem Hafen, der von der Welt abhängt
Revolutionen beginnen immer damit, dass sich Menschen über etwas ärgern. Diese Revolution beginnt damit, dass der Amerikaner Malcom McLean aus North Carolina in einem Lkw seines Speditionsunternehmens sitzt und sich darüber ärgert, wie lange es dauert, den Lkw zu entladen: Alles muss einzeln von der Ladefläche. Stück für Stück. Es ist das Jahr 1937.
Dann kommt der Zweite Weltkrieg. McLean sieht, wie die US-Armee ihr Material transportiert: in großen, einheitlichen Kisten. Das gefällt McLean, gute Idee. Im Jahr 1955 verkauft er seine Anteile an der Spedition, er kauft eine Reederei. Er lässt Schiffe umbauen. Sie können jetzt riesige Container laden. Das Revolutionäre ist, dass sich Container einfach und schnell umsetzen lassen. Vom Wasser aufs Land, vom Schiff auf den Lkw, vom Lkw auf die Schiene.
Am 26. April 1956 verlässt das erste Containerschiff, die "Ideal X", Port Newark in New Jersey. Das ist die Containerrevolution.
Knapp 50 Jahre später ist die Revolution Vergangenheit, der Container hat die Weltherrschaft übernommen, zumindest die Weltherrschaft der Logistik. An einem Freitag sitzt Uwe Köhler, Hemd und gute Krawatte, an seinem Schreibtisch in Hamburg, eine Karte der größten Häfen der Welt hängt hinter ihm: Schanghai, Singapur, Shenzhen, Hamburg auf Platz 14.
Auf dieser Karte sieht es aus, als stünden die Häfen dieser Welt in einem Wettbewerb wie Fußballvereine: Die Zahl der Container, die sie jährlich umschlagen, bestimmt den Platz in der Tabelle. Was auch irgendwie stressig klingt: Alles muss immer wachsen, alles muss größer und schneller werden.
"Ohne den Container hätte es keine Globalisierung gegeben", sagt Uwe Köhler. Wenn er sein Büro verlässt, über die Brücke, am Wasser entlang, dann sieht er die Containerstapel im Hamburger Hafen, bunt wie Legosteine, aufgetürmt wie Spielklötze. Köhler arbeitet für die Hamburger Hafen und Logistik AG, die sich HHLA abkürzt, gesprochen: Hala. Die HHLA nimmt Schiffe in Empfang, ent- und belädt sie, fährt Container durch den Hafen, lädt sie auf Lkw und Züge. Die HHLA ist eine Macht im Hamburger Hafen. Aber sie ist abhängig von der Weltwirtschaft, dem internationalen Strom der Waren.
An diesem Freitag, an dem Uwe Köhler in seinem Büro in Hamburg sitzt, nimmt die "Jules Verne", ein Schiff der Reederei CMA CGM, Kurs auf den Ärmelkanal, 18 Knoten schnell, Kurs 60 Grad. Die "Jules Verne" ist 394 Meter lang. Man kann sagen: so lang wie vier Fußballfelder. Wenn das hilft. Eines der größten Containerschiffe der Welt, 16.200 Standardcontainer (TEU). Sie ist in Ningbo in China gestartet, dann Schanghai, Xiamen, Hongkong, Chiwan, Yantian, Port Kelang in Malaysia, Tanger in Marokko. In jedem Hafen kommen ein paar Container runter, ein paar Container rauf. Sie muss noch nach Southampton, dann nach Hamburg. Sie fährt eine Linie ab, sie hat ihren Fahrplan, wie ein Bus, Fahrtzeit: 77 Tage. Doch an diesem Wochenende wird sie Probleme bekommen.
Uwe Köhler hat auf seinem Bildschirm eine Grafik geöffnet. Sie zeigt die Entwicklung der Häfen in Rotterdam, Hamburg und Antwerpen. Kurven, die nach oben gehen. Im Jahr 2009 haben die Kurven eine Delle. Die Grafik zeigt die Chance. Sie zeigt, wie wichtig der Hafen für Hamburg ist: Er wächst und gehört zu den größten drei Containerhäfen Europas. Die Delle zeigt die Gefahr. Wenn es der Weltwirtschaft schlecht geht, geht es dem Hafen schlecht. Und wenn es dem Hafen schlecht geht, geht es Hamburg schlecht. Der Dominoeffekt. Wie 2009.
Es begann damit, dass Banken in den USA zweifelhafte Immobilienkredite vergaben, 2008 stürzte die Bank Lehman Brothers, dann stürzten andere Banken, dann brach weltweit der Konsum ein. Dann kaufte man in Osteuropa zum Beispiel weniger iPads. Und wenn man in Osteuropa weniger iPads kauft, dann müssen weniger Schiffe von Schanghai nach Hamburg fahren und weniger Züge von Hamburg nach Prag. In China hörte man auf, neue Container zu produzieren. In Hamburg hatten die Mitarbeiter der HHLA plötzlich viel Freizeit. Der Hamburger Hafen hat sich bis heute nicht vollständig von der Krise erholt. Und den Reedereien geht es weltweit schlecht. Sie schmieden Bündnisse, unterbieten sich in ihren Preisen.
Es ist Sonntag, 15.49 Uhr, als die "Jules Verne" in einen schweren Sturm gerät. Sie sollte jetzt eigentlich schon in Hamburg sein. Aber sie fährt im Ärmelkanal zickzack. Die britische Behörde hat eine ernste Wetterwarnung herausgegeben. Die "Jules Verne" entscheidet sich, vor dem Hafen von Southampton zu warten, bis das Wetter besser wird. Das sind die Feinde der Container: amerikanische Immobilienkrisen und schwere Stürme. Wobei sich Stürme leichter bewältigen lassen. Der Kapitalismus ist vom Kapitalismus bedroht, weniger vom Wetter. Zwei Tage später zieht ein Schlepper die "Jules Verne" in den Hafen.
Wenn sich Uwe Köhler erinnert, wann er das letzte Mal ein Schiff in Hamburg einlaufen sah mit verbeulten und zerstörten Containern, dann holt er ein Foto von 2006 aus der Schreibtischschublade: Ein Unwetter hatte die Container zerquetscht – als seien sie Schuhkartons. Aber lange her. Kommt nicht mehr oft vor. Die Container haben die Häfen der Welt sicherer gemacht. Sie gehen fast nie verloren, weil sie registriert und nummeriert sind und geortet werden können. Und bei der Arbeit im Hafen verletzen sich heute viel weniger Menschen als damals, vor der Containerrevolution. Was auch daran liegt, dass jetzt Maschinen und Computer die meiste Arbeit machen.
Container bringen die Realität fremder Länder mit. Ferne Probleme gibt es nicht mehr
Am Terminal Altenwerder fahren die Container ferngesteuert auf AGV, "Automatic Guided Vehicles", sie sehen aus wie Lkw ohne Führerhäuser. Eine Software gibt die Kommandos. Die AGV helfen mit, dass der Kakao bei Katharina Herzog ankommt. Sie steht in einer Lagerhalle im Hamburger Hafen, sie hat sich eine Signalweste angelegt. Vor ihr ein Berg von Kakaobohnen, graue, schwarze, rote, goldene, die guten Bohnen sind braun. Wenn sie einen Kollegen sieht, dann sagt sie "Moin".
Katharina Herzog hat BWL studiert, seit sieben Jahren arbeitet sie für das Hamburger Unternehmen Cotterell. Cotterell lagert: Kakaopulver, Kakaobohnen, Kakaobutter. Die Container kommen aus der Elfenbeinküste, Indonesien, Ecuador, Ghana. Das Lager, in dem Katharina Herzog steht, ist eine der letzten Stationen eines langen Weges, der damit endet, dass wir in eine Schokoladentafel beißen. Und wir beißen in viele Schokoladentafeln: Durchschnittlich essen Deutsche etwa zehn Kilogramm im Jahr.
Wenn sich ein Journalist für ihre Arbeit interessiert, dann kommt es vor, dass Katharina Herzog wissen will, warum. Warum ausgerechnet Kakao. Kürzlich sei ein Journalist zu Besuch gewesen, der habe nach Kinderarbeit gefragt.
Das gehört auch zur Containerrevolution: Sie globalisiert Probleme. Container bringen die Realität fremder Länder mit. Ferne Probleme gibt es nicht mehr. Sollte es nicht mehr geben.
Es ist jetzt Dienstag, der Sturm im Ärmelkanal hat sich beruhigt, die "Jules Verne" verlässt den Hafen von Southampton, sie hat ihren Fahrplan geändert, erst Bremerhaven, dann Hamburg. Pero Hempel ist schlecht gelaunt, er hat Schnupfen. Im ersten Moment ist er das Klischee eines grimmigen Seebären, doch je länger er von den alten Zeiten erzählt, auf die später zurückzukommen ist, desto mehr muss man ihn mögen.
Pero Hempel ist Kapitän der "Bugsier 5", ein kleines Schiff, ein Schlepper, der Containerschiffe in den Hafen zieht, er liegt am Anleger Neumühlen, gegenüber der großen Terminals, an einer Promenade, an der sich teure Bürowürfel reihen. In diesen Büros gibt es: viel Glas, viel Blick auf den Hafen, viele Konferenztische und Menschen, die gelangweilt über ihre Smartphones wischen. Das ist das neue Hamburg: exklusiv und stylish, aber nicht weit vom Hafendreck. Nicht alle mögen das. Das neue Hamburg können sich nur wenige leisten.
Auf der "Bugsier 5" machen sich bereit: ein Kapitän, ein Ingenieur, ein Matrose und ein Schülerpraktikant. Der Schülerpraktikant wird vor allem lernen, dass die Zukunft der Seemänner schlecht ist. Pero Hempel stellt seinen Kaffee zwischen Steuerknüppeln und Knöpfen ab. Hempel ist 60, fünf Jahre bis zum Ruhestand. Das Schiff "Andromeda" der Reederei CMA CGM nähert sich dem Hafen, 363 Meter lang, 11.356 Container. Sie hat im Hafen von Le Havre gewartet, als der Sturm über den Ärmelkanal fegte. Wenn die "Andromeda" voll beladen ist und man ihre Container auf Lkw lädt, dann können die Lkw einen Stau von Hamburg fast bis nach Hannover verursachen, 138 Kilometer lang. Fremdenführer mögen diesen Vergleich. Touristen schütteln den Kopf, wenn sie das hören: Ist ja verrückt. Das gibt es doch nicht.
Und sie schütteln den Kopf, wenn sie hören, dass es günstiger ist, einen Rotwein auf einem Schiff von Australien nach Hamburg zu fahren als einen Weißwein aus dem Rheingau im Lkw nach Hamburg. Oder wie viel es kostet, ein iPad von Schanghai über die Weltmeere nach Hamburg zu bringen: zehn Cent. Oder wie teuer es ist, ein T-Shirt auf demselben Weg zu transportieren: einen halben Cent.
Das alles, weil ein Mann aus North Carolina 1937 in seinem Lkw saß und sich ärgerte.
Die "Bugsier 5" legt ab. Der Kapitän sieht die "Andromeda", eine Silhouette im Dunst. Er fährt ihr entgegen, wird sie in den Hafen ziehen, ihr dabei helfen, sich mehr als 90 Grad zu drehen und am Terminal rückwärts einzuparken. "Das ist wie Busfahren", sagt Kapitän Hempel. Routine. Was erst wie eine Pointe klingt. Aber wenn er erzählt, was er vorher gemacht hat, 20 Jahre lang, dann versteht man, dass es keine Pointe ist. Er war Bergungstaucher, er zerschnitt und schweißte havarierte Schiffe. Am Meeresgrund, halber Meter Sicht, er musste fühlen und tasten. Dann war ihm das genug, er hat sich in den Hafen versetzen lassen. Im Hafen ist es ruhig.
Auf der "Andromeda" steigt jetzt ein Lotse zu. Er hilft dem Kapitän bei der Einfahrt in den Hafen. Der Lotse nimmt per Funk Kontakt mit der "Bugsier 5" auf. "Vier Strich Backbord", "Fünf halbe Backbord", "Langsam voraus." Die "Bugsier 5" zieht die "Andromeda" an einem Stahlseil zum Terminal, die Besatzung bleibt cool, als sei das eine Hafenrundfahrt, Kapitän, Ingenieur, Matrose. Der Matrose, noch in der Ausbildung, greift zum Fernglas und schaut hoch zur "Andromeda".
Kapitän, Ingenieur, Matrose unterhalten sich über die alten Zeiten. Als die Seefahrt noch romantisch war. Das ist vorbei. Jetzt herrscht Zeitdruck und Lohndumping. Wenn ein Schiff in Hamburg anlegt, dann fahren die Seemänner per Shuttlebus ins "Duckdalben", den Seemannsclub im Hafen. Sie trinken ein Astra und skypen mit ihrer Frau.
Matrose und Kapitän reden über den Schülerpraktikanten: Er muss noch ein paar Knoten lernen. Sie reden über die Containerbrücken an Land, die früher mal aus Deutschland kamen und die heute die Chinesen bauen. Die "Andromeda" liegt jetzt an der Kaimauer. Sie wird betankt. Riesige Greifarme schnappen sich Container für Container, setzen sie an Land, ihre Nummer wird geprüft. Die Weltherrschaft der Container, das ist eine Abfolge sehr schneller und präziser Arbeitsschritte.
Der Lotse funkt an die "Bugsier 5": "Dann sag ich schönen Dank, ihr habt das ganz prima gemacht."
"Jou", sagt Kapitän Hempel, "auch prima gemacht."