Manchmal kann selbst eine Pistole ein aufrichtiger Liebesbeweis sein. Die 14-jährige Natia bekommt sie von ihrem Verehrer Lado geschenkt, damit sie sich im Notfall zur Wehr setzen kann. Als Mädchen muss man sich in einer männlich dominierten Gesellschaft zu behaupten wissen.

Es sind harte Zeiten. Nana Ekvtimishvilis und Simon Groß’ Regiedebüt „Die langen hellen Tage“ spielt 1992 in Tiflis, der Hauptstadt Georgiens, kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Doch die neue Unabhängigkeit ist teuer erkauft. Lebensmittel sind knapp, und der Bürgerkrieg mit den separatistischen Kräften der Teilrepubliken Abchasien und Südossetien hat die Leben Tausender Menschen gefordert, Hunderttausende sind zu dieser Zeit auf der Flucht. Auch in den Straßen ist die Gewalt spürbar, jeder ist sich selbst der Nächste. Einmal durchbrechen bewaffnete Partisanen eine Warteschlange und bedienen sich bei den Brotvorräten der hungernden Bevölkerung. Das Vertrauen in die ordnende Macht des Staates schwindet zusehends.

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cms-image-000043327.jpg (Foto: BeMovie)
(Foto: BeMovie)

So unbeirrt allerdings, wie sich Natia und ihre beste Freundin Eka ihren eigenen Weg durch die Schlange an der Brotausgabe bahnen, vorbei an pöbelnden Männern und keifenden Hausfrauen, besteht kein Zweifel, dass hier eine neue Generation von Frauen heranwächst. Die Hoffnung auf eine unbeschwerte Jugend haben sie längst aufgegeben, aber sie lassen sich auch nicht mehr alles gefallen.

Ihre Freundschaft ist für Eka und die frühreife Natia der einzige Rückhalt. Ekas Vater sitzt für ein Verbrechen im Gefängnis, das auf Umwegen auch das Mädchen einholt: Kopla, der Eka nach der Schule auflauert, ist der Sohn des Mannes, den ihr Vater umgebracht haben soll. Ohne Vaterfigur und mit einer Mutter, die kaum noch die Kraft besitzt, ihre Familie zusammenzuhalten, ist Eka zunehmend auf sich allein gestellt. Natia ergeht es ähnlich. Ihr Vater ist Alkoholiker und macht der Familie das Leben zur Hölle.

Das neue Gefühl von Macht ist ihr nicht geheuer

Darum bleiben die beiden Mädchen die meiste Zeit lieber unter sich, hängen mit ihren Freundinnen ab, rauchen heimlich, tauschen Gossip aus und singen. Natia geht im Gegensatz zur introvertierten Eka mit den repressiven Verhältnissen ziemlich pragmatisch um. Sie ist sich ihrer Wirkung auf die jungen Männer in der Nachbarschaft bewusst und setzt sie auf spielerische Weise ein. Die geschenkte Pistole drängt sie der besten Freundin auf, damit Eka ihrem Peiniger einen Denkzettel verpasst. Als Kopla aber eines Nachts vor ihren Augen von zwei Jungen verprügelt wird, beschließt Eka, ihm zu helfen. Mit vorgehaltener Waffe schlägt sie die Angreifer in die Flucht. Das neue Gefühl von Macht, das sie dabei verspürt, ist ihr nicht geheuer. Erstmals realisiert sie die gefährliche Verlockung der Gewalt.

Regisseurin Nana Ekvtimishvili hat „Die langen hellen Tage“ eine Reise in die eigene Jugend in Georgien genannt. Sie schildert den Alltag von Eka und Natia mit einem unerschütterlichen Optimismus. In der Solidarität der Mädchen, wenn sie gemeinsam die Schule schwänzen und sich den Vormittag mit Autoscooter-Fahren vertreiben, oder der Zigarette, die Eka mit ihrer zickigen älteren Schwester teilt, kommt eine Verbundenheit zum Ausdruck, die sich gegen alle äußeren Widerstände behauptet.

Der rumänische Kameramann Oleg Mutu („Der Tod des Herrn Lazarescu“, „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“) fängt solche Momente mit langen, manchmal sonnendurchfluteten Einstellungen ein. Sein sozialrealistischer Stil dokumentiert eine Lebenswirklichkeit, die (nicht nur aufgrund der zeitlichen Distanz) fremd wirkt, durch die mitreißende Coming-of-Age-Geschichte der Mädchen aber auch eine große emotionale Nähe herzustellen vermag.

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cms-image-000043328.jpg (Foto: BeMovie)
(Foto: BeMovie)

Ausgerechnet die stille Eka mit ihrem trotzigen Gesichtsausdruck wächst mit der Zeit über sich hinaus. Ihr gehört auch der stärkste Moment des Films: Auf einer Familienfeier stürzt sie erst ein Glas Schnaps in einem Zug hinunter und marschiert – alles in einer einzigen fortlaufenden Einstellung gefilmt – kämpferisch auf die Tanzfläche, wo sie, ohne eine Miene zu verziehen, einen traditionellen Männertanz aufführt. Ihr Protesttanz.

Eka hält der alltäglichen Gewalterfahrung ihre eigenen Wertvorstellungen – Zusammenhalt, Vertrauen, Eigenständigkeit – entgegen. So wird die Pistole, die lange als scheinbar einziger Ausweg aus der Unterdrückung durch den Film geistert, zum Symbol für die neue Zeit. 

„Die langen hellen Tage“ erzählt zwar nicht vom Ende der Gewalt, aber seine Heldinnen verkörpern wenigstens die Aussicht auf eine bessere Zukunft.