Ein Minus auf dem Konto kommt auch bei Heike Geißler vor. Schließlich ist sie, wie sie in ihrem Buch „Saisonarbeit“ schreibt, eine mäßig erfolgreiche Schriftstellerin, die schon längere Zeit kein Buch mehr auf den Markt gebracht hat. Und die Mahnungen an Zuspätzahler für ihre Übersetzungen schreibe sie auch nur ungern – man will es sich ja nicht mit den Auftraggebern verscherzen. Rote Zahlen auf dem Konto lösen in der 37-Jährigen also kaum Panikschübe aus. Daran ändern muss sie natürlich trotzdem etwas, weshalb sie dann auch mal im Callcenter jobbt oder, wie in der Vorweihnachtszeit 2010, sechs Wochen lang im Warenlager bei Amazon.
Aus ihren Erfahrungen hat sie eine Geschichte gewoben, die im Kunstverlag Spector Books erschienen ist. Wer sich von „Saisonarbeit“ aber ein Enthüllungsbuch in Wallraff’scher Manier erwartet, kann es gleich zur Seite legen. Auch ist es kein rein autobiografischer Arbeiteressay – das stellt die Ich-Erzählerin schon auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch beim amerikanischen Großkonzern am Rande Leipzigs klar: „Sie gehen los, ich begleite Sie und sage Ihnen, wie alles ist und was Ihnen passiert.“
Dieser literarische Kniff der direkten Leseransprache trägt die Erzählperspektive. Anfangs erscheint das „Sie“ noch wie eine Art Komplizenschaft, eine Freundin, die ebenfalls zu gähnen anfängt, wenn sie einen Karton nach dem anderen zerkleinern muss. Auf der anderen Seite ist das „Sie“ oft eine mutigere, ja aufmüpfigere Persönlichkeit als die Ich-Erzählerin, die sich zu vielem viel denkt, aber in unangenehmen Situationen oft schweigt.
Wie etwa, dass man für die Teilnahme an Schulungen doch bezahlt werden sollte. „Wir bei Amazon denken: Jeder Tag ist ein erster Tag“, sagt Robert, der die Neulinge in den Amazon-Kosmos einweiht. Dort, wo der Kunde König ist, wo sich jeder duzt, wo Handys nicht erlaubt sind und wo man nach Geißlers Beschreibung gezwungen wird, den Handlauf an den Treppen zu benutzen, da jeder Unfall letztendlich dem Unternehmen schade. Dort, wo mit den Schichtarbeitern wie mit unartigen Kindern gesprochen wird, verdichten sich immergleiche Handgriffe zu immergleichen Tagen: „Sie müssen Flyer zu einer Tanzveranstaltung, die in Stapeln zu 250 Stück gebündelt in Kartons liegen, in Tüten stecken und diese Tüten mit einem Label versehen, auf dem für Maschinen und Menschen lesbar steht, was sich in der Tüte befindet.“
Dem entgegengesetzt entzieht sich Heike Geißlers Buch jeglicher Routine, jeglicher Einordnung. Non-Fiktionales verschmilzt mit Fiktionalem, das „Ich“ mit dem „Sie“, der Weltkonzern Amazon wird austauschbar: „Sie haben auf jeden Fall meinen Saisonarbeitsjob bei Amazon, der vollkommen genügt, um alles zu erfahren, was man über die Arbeitswelt in ihrer geläufigsten Ausprägung erfahren kann.“
Die naiv anmutende Verallgemeinerung ist Ausdruck dafür, um was es der Autorin geht: nichts weniger als „um Leben und Tod“ – denn schließlich sitzen oder stehen wir tagtäglich Zeit ab bei Arbeiten, die wir oft lediglich zum Geldverdienen, zum „Überleben“ verrichten. Doch was ist der „Nutzen des Nutzens“, fragt die Ich-Erzählerin und zitiert Lessing, der nur eine der vielen literarischen Referenzen in diesem stellenweise mühsamen und auch sehr poetischen Büchlein ist. Und so ruft die Ich-Erzählerin „Sie“ zum Handeln auf. Nicht dazu, nicht mehr bei Amazon zu bestellen – denn das mache ihr Freund ja auch, und selbst Geißlers Buch „Saisonarbeit“ ist über Amazon lieferbar –, sondern absichtlich Fehler in der Arbeitsroutine zu machen. Den Mund aufzumachen. Oder schlicht den Job hinzuschmeißen, weil er in seiner „Last der sinnlosen Tätigkeit“ „Sie“ zu erdrücken droht.
Sinnlos erscheint an manchen Stellen aber auch Geißlers Buch: Wenn beispielsweise die Sie-Figur auf das „Lächerliche eines reflexhaften Konsums“ herabschaut und 100 Seiten später sich vom ersten Gehalt eine Weihnachtspyramide bei Ebay bestellt. Auch strukturell ist das Buch nicht vollständig zu Ende gedacht: So verweigert sich die Autorin mit ihrem Wunsch, in keine literarische Kategorie zu fallen, zwar vehement dem Geschäftsmodell Amazons. Sie bedient sich jedoch einer Sprache, die mal monoton, mal poetisch ist und mit Referenzen auf Literaten von Böll bis Jelinek einem Gemischtwarenladen gleicht. Wie der Großkonzern Amazon, der neben Büchern eben auch Sexspielzeug verkauft.
Marion Bacher volontiert bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) im Fachbereich Multimedia