Professor Schwartz, ist die freie Wahlmöglichkeit gut oder schlecht?
Die Antwort darauf ist: ja.
Bitte?
Wir haben bisher angenommen, dass Freiheit das Wichtigste für den Menschen ist, dass man umso freier ist, je mehr Wahl man hat. Was bedeutet, dass man dem Menschen nur Gutes tut, je mehr Wahlmöglichkeiten man ihm gibt.
Genau.
Bis vor kurzem waren diese Annahmen meiner Ansicht nach auch wahr. Aber in den letzten dreißig Jahren etwa ist die Anzahl unserer Wahlmöglichkeiten so überwältigend groß geworden, dass wir einen Punkt erreichen, an dem es uns weniger frei macht, noch weitere Wahlmöglichkeiten zu bekommen.
Warum ist denn die Zahl der Wahlmöglichkeiten so gestiegen?
Die Effizienz der Produktion ist gestiegen. Man kann heute Waren von riesiger Vielfalt produzieren – zum Teil, weil die Produktion computerisiert werden konnte. Parallel dazu wurden wir alle reicher, wir haben mehr Geld zur Verfügung, um etwas zu kaufen.
Nur das?
Gesellschaftlich und kulturell gab es in den 1960er-Jahren massiven Widerstand dagegen, vorgeschrieben zu bekommen, wie man zu leben hat. Sich nach den Ansichten der Kirchen, der politischen Führer, der Lehrer zu richten, wann man heiraten darf, ob und wann man Kinder haben soll, welchen Beruf man ergreifen sollte. All das wurde in den Sechziger- und Siebzigerjahren in Frage gestellt. Das hat westliche Gesellschaften unwiderruflich verändert.
Wir sind reicher, haben mehr Möglichkeiten, weniger Vorschriften – das klingt doch toll.
Vollkommen richtig. Als jemand, der all das miterlebt hat, war ich überzeugt davon, dass es sich um Fortschritt handelt und all diese Veränderungen das Leben von uns allen verbessern. Es war nahe liegend, das anzunehmen. Denn in den letzten zwei Jahrhunderten hat das ja für westliche Zivilisationen gestimmt: Je mehr Möglichkeiten es gab, desto freier waren sie.
Wo ist also das Problem?
Es scheint ein Punkt erreicht worden zu sein, an dem es die Menschen lähmt, mehr Möglichkeiten und Freiheiten geboten zu bekommen. Dabei ist es nicht so, dass es eine magische Anzahl von Möglichkeiten gibt: Wenn man so viele Möglichkeiten hat, ist es in Ordnung, wenn man aber nur eine mehr bekommt, ist man in Schwierigkeiten. Denn diese Anzahl ist für jeden Menschen eine andere und sie ist in verschiedenen Lebensbereichen wiederum unterschiedlich. Sicher ist aber: Wir haben die Linie überschritten.
Was bedeutet das?
Angesichts der zahllosen Möglichkeiten ist es extrem schwierig, die Informationen zu sammeln, die es ermöglichen zu entscheiden, welche Möglichkeit man wählen soll. Es gibt so viele Informationen, dass die Menschen sich angesichts dieser Fülle hilflos fühlen.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Es gibt eine noch nicht veröffentlichte Studie über die private Altersvorsorge in den USA. Arbeitgeber boten früher meist zwei oder drei unterschiedliche Investments an, unter denen man wählen konnte. In den letzten Jahren wurden daraus dreißig. Die Annahme lautet auch hier: Gibt man den Menschen mehr Möglichkeiten der privaten Vorsorge, verbessert man ihr Leben, weil jeder genau das Modell finden kann, das für ihn richtig ist.
Und was ergibt die Studie dazu?
Der Prozentsatz der Menschen, die sich nicht mehr um ihre private Altersvorsorge kümmern, nimmt zu. Es ist so schwierig herauszufinden, welches Vorsorgemodell das richtige ist, dass man sich sagt: "Darüber entscheide ich morgen." Und natürlich entscheidet man nie. In den meisten Fällen tragen die Arbeitgeber einen Teil zu dieser Vorsorge bei. Indem sie sich nicht entscheiden, verbrennen die Arbeitnehmer buchstäblich Geld. Sie lehnen ein Geschenk ihres Arbeitgebers ab.
Altersvorsorge ist aber auch eine komplizierte Frage.
Ja, doch ähnlich läuft es auch mit vermeintlich kleinen Entscheidungen. Mir ging es so, als ich mir neue Jeans kaufen wollte. Ich mache das selten und habe immer das gleiche Modell gekauft, es gab eben nur das. Jetzt ging ich ins Geschäft und man bot mir mehr als ein Dutzend verschiedene Jeans an. Zuerst war ich verwirrt und dann habe ich eine Stunde damit verbracht, sie alle anzuprobieren. Ein Einkauf, der mich früher dreißig Sekunden gekostet hat, kostete mich jetzt eine Stunde. Ich verließ das Geschäft mit neuen Jeans, Jeans, die mir so gut passten wie noch keine zuvor. Ich wusste, dass das der beste Jeanskauf meines Lebens war, und fühlte mich gleichzeitig so schlecht wie nie.
Warum?
Die Jeans passten mir hervorragend, aber nicht perfekt. Ich dachte mir: Wenn ich schon so viele Jeans angeboten bekomme, kann ich mich eigentlich mit nichts Schlechterem als den perfekten Jeans zufrieden geben.
Und das glückte Ihnen nicht?
Ich kaufte besser ein als je zuvor und fühlte mich schlechter. Und das ist, was uns Kopfzerbrechen macht: Wir kaufen Salatdressing im Supermarkt und es ist gut, aber nicht hervorragend. Jedenfalls nicht so gut, wie wir glauben, dass es sein müsste, nachdem wir aus hundert verschiedenen Dressings wählen konnten. Wir gehen in ein Restaurant, das Essen ist sehr gut, aber es ist nicht ausgezeichnet, und das sollten wir doch erwarten können, wo es hunderte Restaurants in der Stadt gibt, unter denen wir wählen konnten.
Sie beschreiben doch nur, dass man Erwartungen hat.
Wir bauen hohe Erwartungen an die Ergebnisse unserer Entscheidungen auf und die Ergebnisse können die Erwartungen gar nicht erfüllen, weil die Erwartungen übertrieben hoch sind.
Warum ist es übertrieben, wenn ich das beste Essen will, die besten Jeans?
Was genau sind denn die absolut besten Jeans?
Für Sie oder für mich?
Egal. "Das Beste" ist ein sehr abstraktes Kriterium und fast schon prinzipiell unmöglich zu erreichen. Egal, wie gut die Jeans passen werden, angesichts der Fülle von verschiedenen Jeans, die es gibt und die für Sie prinzipiell erreichbar sind, ist es leicht sich vorzustellen, dass es Jeans geben muss, die noch besser passen. Am Ende sind Sie enttäuscht. Perfektion ist einfach nicht erreichbar. Und selbst wenn sie erreicht werden würde, würden wir nicht merken, dass wir sie erreicht haben.
Ist da jeder Mensch gleich?
Es gibt Menschen, die wollen immer das Beste. Diese Menschen nenne ich Maximierer. Und es gibt Menschen, die mit dem zufrieden sind, was für sie gut genug ist. Diese Menschen nenne ich die Genügsamen.
Die sind also mit weniger zufrieden?
Nein. Genügsam zu sein bedeutet, Standards zu haben, die alles, was man kauft, erfüllen muss: der Job, den man macht, die Universität, die man wählt. Aber wenn man etwas findet, das den Vorstellungen und Standards entspricht, nimmt man es. Und wenn man sich einmal entschieden hat, macht man sich keine Sorgen darüber, dass es vielleicht um die Ecke etwas geben könnte, was vielleicht doch noch besser ist.
Die Wahl der Altersvorsorge, der Jeans, des Computers – das sind materielle Entscheidungen. Was ist denn mit emotionalen Entscheidungen?
Das Prinzip ist das gleiche. Wenn ein Maximierer eine Beziehung hat, fragt er sich nicht, ob das eine gute Beziehung ist - was meiner Ansicht nach eine vernünftige Frage ist, obwohl sie einen auch in ziemliche Schwierigkeiten bringen kann. Er fragt sich, ob das die beste Beziehung ist. Er geht also aus, zum Abendessen, und schaut die ganze Zeit, ob am Nebentisch nicht jemand sitzt, der noch attraktiver ist oder ein schöneres Lächeln hat oder temperamentvoller ist. Er ist die ganze Zeit auf der Suche nach jemandem, der möglicherweise besser ist. Ich kann mir nichts vorstellen, das auf eine Beziehung zerstörerischer wirkt als das.
Wie verbreitet ist diese Maximierungs-Problematik denn?
Ich möchte eines klarstellen: Ich beschreibe ein Problem, mit dem die Gewinner einer Gesellschaft konfrontiert sind, Privilegierte. Die Verlierer in einer Gesellschaft leiden nicht darunter, zu viele Wahlmöglichkeiten zu haben. Die wären froh, wenn sie sie hätten.
Wie verbreitet ist das Problem unter den Bessergestellten?
Diese Einstellung durchdringt unser soziales Leben. Ich sehe es an meinen Studenten. Ich unterrichte an einem kleinen College mit sehr talentierten Studenten. Wenn der Abschluss naht und sie überlegen, was sie im Leben machen wollen, sind sie so gestresst, dass es kaum zu ertragen ist. Weil sie nicht wissen, wie sie sich für einen Weg entscheiden sollen, der sie durch ihr ganzes Leben führen soll. Wir haben ihnen all diese Freiheit, all diese Möglichkeiten gegeben – und es macht sie einfach fertig. Und wir reden hier von den privilegiertesten Menschen auf der Welt. Das kann Menschen zerstören.
Was genau meinen Sie mit "zerstören"?
Selbst gute Entscheidungen machen unzufrieden. Sie treffen eine Entscheidung, es ist eine gute Entscheidung und Sie fühlen sich schlecht. Was heißt, dass Sie sich mit jeder Entscheidung schlecht fühlen. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen klinischer Depression und dem Umstand, ein Maximierer zu sein.
Wie wird jemand zu einem Genügsamen oder einem Maximierer?
Das ist die Millionen-Dollar-Frage. Ich weiß es nicht. Wir haben einige Hinweise darauf, dass man das bei Achtjährigen schon erkennen kann. Und es gibt Beweise dafür, dass es in der Pubertät erkennbar ist. Der Zusammenhang zwischen der Einstellung der Eltern und der ihrer Kinder ist stark, aber es scheint nicht so zu sein, dass man einfach das wird, was die Eltern sind. Das ist alles, was ich momentan weiß.
Was raten Sie, um das Problem in den Griff zu bekommen?
Erstens: Wir sollten versuchen, die Möglichkeiten zu begrenzen, statt sie immer weiter zu vergrößern. Zweitens: Wir müssen die Einstellung gewinnen, dass Grenzen unser Leben manchmal verbessern. Weil Grenzen der Wahlfreiheit es manchmal erst möglich machen, überhaupt zu handeln, zufrieden zu sein.
Das Credo der freien Welt, dass freie Auswahl gut ist, kann am Ende zu meinem Unglück führen, weil ich nicht in der Lage bin, unter den Möglichkeiten die richtige zu wählen?
Genau.
Menschen kämpfen für die Freiheit, auswählen zu können, sie sterben dafür.
Absolut richtig.
Und jetzt sagen Sie, dass es nur ein Credo ist, aber es nicht wenige Menschen gibt, die damit gar nicht zurechtkommen.
Nein, das ist nicht fair. Es ist nicht nur ein Credo, es ist die Wahrheit. Das Problem ist: Wir müssen der "freien Auswahl" etwas voranstellen.
Was denn?
"Gewisse". "Eine gewisse" freie Auswahl.
Wie viel ist "eine gewisse"?
Das wissen wir nicht. Unsere Aufgabe als Wissenschaftler ist es, dies herauszufinden: Wie viel von welcher Art in welchen Bereichen unseres Lebens ist die richtige Anzahl, um unser Wohlbefinden zu steigern, statt es zu verringern?
Gibt es Firmen, die anfangen einzusehen, dass sie besser nur fünf Marmeladen anbieten sollten statt 25?
Aldi ist eine der am schnellsten wachsenden Supermarktketten. Aldi bietet Ware zu niedrigen Preisen an, das ist ein Grund. Aber Aldi bietet auch nur eine begrenzte Auswahl an und das ist eine Attraktion. In den USA gibt es eine Kette, Trader Joe's, die ist etwas teurer als Aldi, aber auch mit einer sehr begrenzten Auswahl – und das ist die am schnellsten wachsende Supermarktkette in den USA. Begrenzte Auswahl ist zu einer Attraktion geworden, nicht zu einem Nachteil. Dabei bin ich nicht mal sicher, dass die Leute das so ausdrücken und sagen könnten, es mache Spaß, in einem Geschäft einzukaufen, das mir keine 100 Müslisorten anbietet. Sie wissen nur, dass sie aus dem Geschäft kommen und sich besser fühlen, als wenn sie aus einem Megastore kommen.
Weniger Auswahl als Geschäftsmodell?
Absolut. Ich denke, dass diese Erkenntnisse die Fundamente erschüttern, auf denen unsere Gesellschaften erbaut sind. Sie zwingen uns, darüber nachzudenken, wonach wir streben sollten, wenn wir das Leben der Menschen in unseren Ländern verbessern wollen.
Waren dann Menschen vor dreißig Jahren, die weniger Optionen hatten und auch weniger Geld, insgesamt glücklicher?
Möglich. Die Häufigkeit von klinischer Depression ist heute dreimal so hoch wie noch vor einer Generation. Die Selbstmordraten sind höher als je zuvor. Es gibt also zumindest mehr extrem unglückliche Menschen. Ob das durchschnittliche Glücksgefühl niedriger ist als vor zwanzig Jahren, kann ich nicht sagen. Klar ist, dass es nicht höher ist. In Japan ist zwischen 1945 und 1995 das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf um das Fünffache gestiegen. Japan ist fünfmal reicher. Aber kein bisschen glücklicher. Das Gleiche trifft auf die USA zu. Mein Gefühl ist: Den Menschen geht es besser, aber sie fühlen sich schlechter.
Was bedeutet das für die Politik?
Die Politik hat die Aufgabe herauszufinden, was im Interesse der meisten Menschen ist. Und das muss zur Grundannahme der Politik werden. Das bedeutet nicht, dass die Politik alles vorschreiben soll. Die Menschen müssen die Möglichkeit haben, sich gegen etwas zu entscheiden.
Gibt es dafür ein Beispiel?
In den USA gilt der Grundsatz: Führerscheinbesitzer sind keine Organspender. Man kann aber einen Zettel ausfüllen und so Organspender werden. In den USA sind 23 Prozent der Führerscheinbesitzer Organspender. In vielen europäischen Ländern ist die Grundannahme: Man ist Organspender. Und man muss einen Zettel ausfüllen, um keiner zu sein. Der einzige Unterschied ist also: Was passiert, wenn man keinen Zettel ausfüllt? In den USA wird man intakt begraben, in anderen Ländern wird alles verwendet, was möglich ist. In diesen Ländern sind etwa 90 Prozent der Führerscheinbesitzer Organspender. Mir scheint unstrittig, dass es einer Gesellschaft mehr nutzt, wenn mehr Menschen Organspender sind.
Wie könnte also ein Grundsatz für die Politik lauten?
Die Politiker müssen sich klar machen, was passiert, wenn die Menschen keine Entscheidung treffen. Und sicherstellen, dass das, was passiert, wenn die Menschen nicht wählen, im Interesse der meisten Menschen ist.
Beschränkt das am Ende nicht doch die Freiheit der Menschen?
Nein. Es begrenzt nicht die Freiheit, berücksichtigt aber, dass die Menschen ohnehin schon dauernd Entscheidungen treffen und auswählen müssen. Man trifft die richtige Entscheidung für sie, lässt ihnen aber die Möglichkeit, jederzeit nein zu sagen.