Von der Wand blättert die Blümchentapete, daran hängen ein hölzernes Kruzifix, eine heilige Jungfrau in Wachs, ein „Kicker“- Poster der DFB-Elf von 1986. Daneben ein Bild von mir: knallgrüne Cordhose, feuerrotes Haar, zwei weiße Zähne im grinsenden Babyface. 1997 war das. Ich war da gerade zwei.
Seitdem hat sich meine Welt immer schneller gedreht. Meine Oma aber beschloss, die Zeit anzuhalten. Ich bin gewachsen, habe angefangen zu schreiben, zu rauchen, mir einen Bart stehen zu lassen. Die Welt hat Internet bekommen und Smartphones und Trump zu ihrem wichtigsten Mann gemacht, und meine Oma hat das alles boykottiert. Hat ihr Leben auf ihrem alten Hof konserviert wie die eingelegten Pfirsiche in der Büchse, die sie so gern hat. Seit dem Sommer der Migration vor zwei Jahren hat sie diese Büchse zu einem veränderungsresistenten Bollwerk umgerüstet mit dem Fernseher als Guckloch in die Welt und „Tagesschau“-Jan Hofer als ihrem Informanten. Letztes Weihnachten habe ich das Bollwerk geknackt. Mein Mittel: zwei Flüchtlinge.
Weihnachten in Bayern auf dem Land muss für Außenstehende befremdlich wirken. Mehr Gelage als hohes Fest der Heiligkeit. Da kommt die Familie zusammen, isst Schweinsbraten – und es gibt immer Schweinsbraten! – und betrinkt sich dabei. Wein, Weißbier, Obstler, und weil am Ende sowieso jeder doppelt sieht, weiß keiner mehr genau, wie viele Leute eigentlich da waren. Für meine Oma wiederholt sich dieses Ritual fast ausnahmslos seit 80 Jahren auf gleiche Weise. 1937 geboren, aufgewachsen zwischen Kühen, Schweinen und Fliegerbomben, Schulabgang nach Klasse acht. Mit Ende 20 hat sie geheiratet, mehr aus Pragmatismus denn aus Liebe, den Jungen vom Nachbarhof. Mit ihm hat sie Kinder bekommen, drei Stück, und die haben Kinder bekommen, zehn Stück, und mit ein bisschen Glück werden die bald wieder Kinder kriegen, und die Oma wird Uroma. Einmal ist sie sogar ins Ausland gereist, Bruck an der Leitha, Österreich, davon erzählt sie heute noch. Dieses Leben sollte ihr niemand mehr nehmen, keine -sierung (Globali-, Digitali-, Islami-) und kein -ismus (Terror-, Vegetar-). Und auch kein Flüchtling dieser Welt.
Warum die Oma nicht mal aus ihrer Komfortzone locken und ein bayrisch-syrisch-somalisches Integrationsprojekt starten? So dachte ich es mir. Zwei Freunde wollte ich zum Fest der Familie mitbringen: Ahmed, dessen Familie von der Al-Shabaab in Somalia exekutiert wurde, und Mohammed, dessen Eltern noch immer irgendwo in Syrien stecken. Zwei Jungs, friedfertig wie handzahme Chihuahuas. Der Anruf bei meiner Oma rein prophylaktisch und der Höflichkeit wegen: einmal Gästeliste plus zwei. Ein bisschen Oma-Enkel-Geplänkel. So hatte ich mir das vorgestellt. Doch ich lag falsch: Riesenkrach statt Rumgequatsche. „Asylanten? Die kemman mia ned ins Haus!“, brüllte Oma in den Hörer, so etwa, wie ich mir einen Viktor-Orbán-Anruf bei Angela Merkel vorgestellt hatte. „Das sind keine Asylanten. Mohammed und Ahmed sind meine Freunde!“, habe ich, noch ruhig, protestiert. „Ha, Muslime sans a no! Die hom gar koa Weihnachten!“, hat dann die Oma geschrien, und ich habe irgendwas zurückgeschrien, worauf die Oma „Kein Respekt vorm Alter, du Terroristenfreund!“ gebrüllt hat. Und ich dann erwidert habe: „Dein Nazigebrüll interessiert mich einen Scheißdreck!“ Ich habe das Telefon in die Ecke geknallt, mich erschöpft in den Sessel fallen lassen und zugeschaut, wie die Restfetzen meiner Geduldsnerven davonsegelten.
Wahrscheinlich hätte ich Weihnachten boykottiert wie die Oma die Modernisierung, wenn mich nicht die spontan einberufene Familien- Krisen-WhatsApp-Gruppe rumgekriegt hätte. „Superschade wäre das“, und die Oma hat nur eine von 25 Stimmen, außerdem hat die viel erlebt, da wird sie die beiden Gäste auch noch überleben. Meine Oma ist nie besonders sensibel gewesen. Eine Frau der Imperative (Setz di hi! Geh scheißen!), ein Händedruck wie ein Fleischwolf. Ehrlich, direkt, rustikal. Ich habe nie eine Emotion an ihr entdeckt und kann mich nicht erinnern, dass sie jemals geweint hat. Doch an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag, 26. Dezember 2016, unvergessen, kurz vor unserer Ankunft auf dem Hof, hat sie einen Heulkrampf gekriegt. Einfach so. Plötzlich, aus Angst. Angst vor etwas, das sie gar nicht kannte, das es in ihrem Leben so gar nicht gibt. Den Fremden: Ahmed und Mohammed.
Den Rest des Tages saß sie dann schmollend am einen Ende des Tisches und lugte immer mal wieder missmutig rüber zu Ahmed und Mohammed, die ein wenig ratlos vor ihrem Stück Schweinebraten saßen. Und zu mir, der sich fragte: Wovor hat diese Frau Angst? Und: Wo war sie die letzten zwei Jahre, als die Flüchtlinge kamen? Ich beschloss, diese mir so fremde Frau, die meine Oma ist, kennenzulernen. Das war ich ihr schuldig, und deshalb habe ich sie im Frühjahr darauf für eine Woche besucht. Studieren wollte ich diese alte Frau mit ihrem immer noch vollen braunen Haar und hornhautüberzogenen Bäuerinnenhänden. Eine Woche Hotel Oma mit Bergen von Dampfnudeln, goldgelb, hellbraune Kruste, Vanillesoße drüber, so hab ich sie am liebsten. Eine Woche mit Bayern 1 in Schwerhörigenlautstärke und Abba oder „Losing My Religion“ von R.E.M. in Dauerschleife. Am siebten Tag in Niederbayern notierte ich drei Erkenntnisse. Erstens: Omas Angst vor Fremden hat mit dem Fernseher zu tun. Während ich 2015 auf der Balkanroute war, 2016 auf Lesbos der türkischen Küstenwache beim Außengrenze-Sichern zugeschaut habe, saß die Oma vorm Fernseher. Terror, Terror, Flüchtlinge, Chaos, hat Jan Hofer erzählt, und so ganz genau hat sie sich da irgendwann nicht mehr ausgekannt und einfach stoßgebetet, dass dieser Tsunami des Wahnsinns Niederbayern niemals erreichen würde. Bloß keine „Münchner Zustände“, du liebe Zeit.
Zweitens: Omas Angst vor den Leuten, die vor dem Krieg fliehen, hat mit dem Krieg zu tun. Erzählt hat sie von den Tieffliegern auf dem Weg zur Schule, von den Guten-Morgen-Hitlergrüßen in Klasse eins. Von den Flüchtlingen, die auf die Höfe kamen, als der Krieg vorbei war – die Haslingers, echte deutsche Flüchtlinge aus dem Böhmischen Wald, fleißige Leut, „keine arbeitsscheuen Asylanten“. Und: von den Fremden, die kamen, um zu plündern. Amerikaner und Franzosen, Soldaten und Gangster. Vieh schlachten, weiterziehen, das war die Devise. Vor Fremden hat sie seitdem Angst.
Drittens: Das Weltbild von der Oma und meins sind gar nicht so verschieden. Was sie am allermeisten an Deutschland stört, habe ich sie gefragt. Dass die Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer. Dass die Berufe, die der Mensch wirklich braucht – Bäcker und Krankenpfleger –, einen Dreck bezahlt bekommen und die „Nichtsnutze“ – die Banker und die Politiker – Millionen scheffeln. Auf die mickrige Bäuerinnenrente hat sie geschimpft und auf die Massentierhaltung und auf das Überangebot in den Supermärkten und darauf, dass in Afrika die Leute verhungern. „They are here, because we were there!“, habe ich gerufen und meiner Oma erklärt, dass sie ja eigentlich eine ganz feine Sozialistin sei. Der Gedanke war so komisch, dass wir beide lachen mussten.
Jetzt, ein halbes Jahr später, sitze ich wieder vor meinem Dampfnudelberg bei Oma, Nebel wabert über den Hof, vom DFB-Poster schielen immer noch Pierre Littbarski mit Vokuhila und Olaf Thon mit El-Chapo-Pornobalken auf der Oberlippe. Letzte Woche war Bundestagswahl. Die Oma hat gewählt, routiniert wie eh und je. Linke Stimmzettel-Seite den Huaba Hans, „a feiner Moan!“ – rechte Seite die CSU. Sie hat sich hübsch gemacht heute, mit Perlenkette und dem ganzen Schnickschnack. Für ihren Enkel? Nein, weil sie gleich die „Weiber“ trifft vom Frauenbund. Über was sie sich da immer unterhalten, frage ich. „Über dieses und jenes und Politik“, sagt die Oma. Politik? „Ja, dass wir reden können, wie wir wollen, und am Ende doch nix besser wird.“ „Dann wähl halt endlich mal für deine Interessen und nicht 50 Jahre lang dieselbe Partei!“, fahre ich sie an. Plötzlich wird meine Oma still. „Weißt du“, sagt sie dann ein bisschen traurig, „vielleicht hast du ja recht. Ich war nie auf einer ordentlichen Schule, und die Welt hab ich auch nicht gesehen, ich kenn mich einfach nicht aus. Vielleicht sollte eine alte Frau wie ich das mit dem Wählen einfach den Jungen überlassen.“ Und da merke ich, wie mir die Schamesröte ins Gesicht steigt. Letzte Weihnachten habe ich sie zur Hölle gewünscht, und jetzt habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Bedürfnis, meine Oma in den Arm zu nehmen.