Das Happy Valley ist ein Tal in den Wäldern Pennsylvanias, zwei Autostunden entfernt von der nächsten Großstadt – Pittsburgh –, und dieses Tal trägt seinen Namen, weil hier die Studenten des State College of Pennsylvania lernen. Angeblich besonders glückliche Studenten, denn Penn State beheimatet eines der erfolgreichsten College-Footballteams der USA. Die Nittany Lions spielen fast jedes Jahr um den Titel, und nichts macht die Menschen im Happy Valley glücklicher als ein Sieg ihrer Footballer. Sie campen Wochen vor Saisonbeginn am Beaver Stadium, um eines der knapp 110.000 Tickets zu ergattern, die es für jedes Heimspiel gibt; wenn das Fernsehen ein Spiel am Wochentag ansetzt, schließt die Uni mittags ihre Pforten, um den Verkehr bewältigen zu können. All die jungen, glücklichen Menschen auf dem riesigen Campus des University Park: Sie tragen ihre Mützen, Shirts, Hosen, Taschen mit dem Logo der Nittany Lions wie Schlachtenbummler auf dem Weg zum Stadion. Nur finden an diesem Tag im Mai keine Spiele statt, sondern nur Vorlesungen. Die Studenten von Penn State sind sportverrückt, aber nicht sportverrückter als die Schüler an anderen Hochschulen. Dieser Fanatismus erreichte in den vergangenen Jahren einen Grad, den Professoren, Schulleiter, Politiker und sogar viele Schüler als absurd empfinden: Es gibt amerikanische Studenten, die die Universität nicht nach ihrer akademischen Qualität auswählen, sondern nach der Sympathie fürs Sportteam.
Seit Neuestem diskutiert das Land darüber, wie es weitergehen soll. „Zum ersten Mal entwickelt sich ein nationaler Diskurs“, sagt William E. Kirwan, Kanzler der University of Maryland und Vorsitzender einer Untersuchungskommission, die sich mit dem Collegesport beschäftigt. „Wir haben einen Punkt erreicht, an dem der Sport die Integrität unserer Bildungsorganisationen unterminiert und alle Beteiligten von ihren eigentlichen Aufgaben ablenkt.“ Die sogenannte Knight Commission behandelt viele Fragen: Dürfen Hochschulen Millionen verdienen mit Sportlern, die wegen ihres Status als „Student-Athlete“ nicht mal ein warmes Mittagessen als Geschenk annehmen dürfen? Zerstört die Fankultur jede andere Form von Campuskultur? Was tun mit den Tausenden „Student-Athletes“, denen die Unis wegen ihres sportlichen Talents Stipendien andienen, sie aber gar nicht ausbilden? Zwar müssen die Sportler offiziell die gleichen Anforderungen erfüllen wie andere Studenten, aber in der Realität werden die Testergebnisse manipuliert. Denn die meisten Spitzensportler bringen keine akademischen Voraussetzungen mit. Daher landen viele mit 22 Jahren auf der Straße, weil nur etwa einer von 100 Sportlern der Unis einen Vertrag in den Profiligen NFL (Football) oder NBA (Basketball) oder NHL (Eishockey) ergattert. In der National Collegiate Athletic Association (NCAA) sind 1.300 Universitäten organisiert, die Sportler unter professionellen Bedingungen in Dutzenden Disziplinen trainieren. Randsportarten wie Lacrosse, Fußball, Rudern oder Leichtathletik bringen Weltklasseathleten hervor, doch das Geld verdienen die Schulen fast ausschließlich mit zwei Sportarten: Football und Basketball. Allein die zwölf in der Southeastern Conference spielenden Teams – darunter Louisiana, Alabama, Florida – setzten 2011 mit Tickets, Lizenzen, Merchandising und Ähnlichem über eine Milliarde Dollar um. Jedes dieser Teams spielt in Stadien, die mehr als 90.000 Zuschauer fassen.
Die Fernsehrechte für das Basketballturnier der besten Teams vermarktete die NCAA von 2010 bis 2024 für insgesamt knapp elf Milliarden Dollar. Fernsehkonzerne zahlen diese Summen ohne zu zögern, denn die Spitzenspiele der Collegesaison erzielen höhere Einschaltquoten als die Profiligen. Das letzte Final-Four- Turnier der Basketballer, „March Madness“ genannt, sahen bis zu 100 Millionen Zuschauer, während bei den Finalspielen der NBA kaum 30 Millionen einschalten. Die Amerikaner lieben es, den jungen, hungrigen Athleten beim Wettkampf zuzuschauen. Geschätzte 1.600 Collegespiele überträgt das Fernsehen live. Eine Bundesligasaison in Deutschland, zum Vergleich, dauert 306 Spiele. Die Universitäten konkurrieren um die besten Sendeplätze, denn nichts steigert den Bekanntheitsgrad so sehr wie ein Liveauftritt etwa im „College GameDay“ auf dem Sportkanal ESPN. Barbara Rupp, an der University of Missouri zuständig für die Rekrutierung neuer Studenten, sagt: „Nachdem wir dort einmal gezeigt wurden, kannten die Bewerber unseren Spitznamen sogar in Chicago: Mizzou.“ Wie viel genau der Collegesport umsetzt, ist kaum nachzuvollziehen, denn die NCAA veröffentlicht nur unvollständige Zahlen. Das System ist so kompliziert, dass Außenstehende nicht erkennen können, wie hoch die Einnahmen sind und an wen die NCAA die Profite ausschüttet. Ihr neuer Zentralpalast in India- Mit ihren Football- oder Basketballteams verdienen die Colleges in den USA Milliarden – nur die Studenten sehen keinen Cent davon Text: Lars Jensen Der Preis ist heiß: Die Studiengebühren für Colleges und Universitäten betragen pro Jahr zwischen einigen Tausend und über 40.000 Dollar 38 fluter Nr. 43 – Thema Bildung napolis inklusive Hubschrauberlandeplatz und Arena mit 50.000 Plätzen deutet darauf hin, dass genug hängen bleibt. Durchschnittlich zwei Millionen Dollar pro Jahr verdient jeder der Football-Coaches der 100 führenden Colleges; manche haben einen Privatjet – nur bei den Sportlern kommt kein Cent an.
Wer beim Tätowierer Autogramme gegen Tattoos tauscht, fliegt raus
Die NCAA erkannte früh, wie sie sich vor den Forderungen der Sportler schützen konnte, indem sie sie zu Amateuren erklärte. Den Begriff „Student-Athlete“ erfanden die Anwälte der NCAA in den fünfziger Jahren, als die Witwe eines tödlich verunglückten Footballers auf Schadenersatz klagte. Die NCAA erklärte, der Spieler sei kein Angestellter der Schule, denn er habe nie ein Einkommen versteuert, er sei bei der Ausübung seines Hobbys gestorben, denn er war lediglich ein „Student-Athlete“. Colorados Supreme Court gab der NCAA Recht und schuf einen Präzedenzfall, der bis heute gültig ist. Wer sich verletzt, ist selber schuld. In seinem Artikel „The Shame of College Sports“ für das Magazin „the Atlantic“ beschreibt der Historiker und Bürgerrechtsexperte Taylor Branch die NCAA als mafiöses Kartell, das die Sportler mit Knebelverträgen entrechtet. „Schauen Sie, wie viel Geld wir mit diesen meist schwarzen armen Jugendlichen verdienen“, erklärt Louisianas langjähriger Basketballcoach Dale Brown in dem Buch „Wir sind moderne Sklaventreiber“. Tatsächlich zwingt die NCAA jeden Spieler, die Rechte an seinen sportlichen Leistungen auf Lebenszeit abzutreten. Wenn zum Beispiel das Computerspiel „NCAA Basketball“ millionenfach verkauft wird, benutzt der Produzent Bilder von aktuellen Spielern, ohne dass die ein Anrecht auf Teile der Erlöse haben. Beim kleinsten Vergehen jedoch müssen Athleten büßen. In Columbus, Ohio, sperrte die NCAA einige Basketballer, die bei einem Tätowierer Autogramme gegen Tattoos tauschten; in Miami wurden über 70 Footballer bestraft, weil sie Zuwendungen eines Sponsors angenommen hatten; A. J. Green aus Georgia verkaufte sein Trikot, um einen Frühjahrsurlaub zu bezahlen. Die NCAA zog ihn für vier Spiele aus dem Verkehr – die Universität durfte das Trikot mit seinem Namen aber weiterhin für 40 Dollar verkaufen. „Viele Spieler verlassen ihre Schule vorzeitig, weil ihr Stipendium nach jeder Saison erneuert werden muss“, sagt Stuart Paynter, ein Anwalt, der sich auf NCAA-Fälle spezialisiert hat.
Penn State war jahrzehntelang Vorreiter in der Kommerzialisierung des Collegesports und befeuerte die Debatte über die Auswüchse mit einem weiteren Skandal: Es war herausgekommen, dass Assistenztrainer Mike McQueary bereits 2002 seinen Kollegen Jerry Sandusky dabei beobachtet hatte, wie er in der Dusche einen Minderjährigen vergewaltigte. McQueary benachrichtigte den Cheftrainer Joe Paterno, der den Uni-Präsidenten Graham Spanier alarmierte. Doch weder Spanier noch Paterno hielten es für notwendig, die Polizei einzuschalten. Sie verwarnten Sandusky lediglich und nahmen ihm die Schlüssel für die Dusche weg. Schließlich war Sandusky ein begehrter Defense-Coach, Autor mehrerer Footballbücher, persönlich vom ehemaligen USPräsidenten George H. W. Bush belobigt. 2008 gelang es der Mutter eines Opfers endlich, Ermittlungen durch die Polizei auszulösen. Sandusky wurde nach deren Abschluss der Misshandlung in 40 Fällen angeklagt, die zum Teil viele Jahre zurückreichten. Wie war es möglich, dass die Führung von Penn State diesen Mann jahrelang gewähren ließ? Ganz einfach: Niemand wollte das Profitcenter Football in Verruf bringen.
Innerhalb von Tagen war der Name Sandusky im Lande so bekannt wie die Namen bin Laden oder Hussein. Die „New York Times“ verglich Penn State mit der katholischen Kirche, in der „eine patriarchalische Hierarchie pädophile Verbrechen deckt, um den Wert ihrer Marke zu schützen“. In diesem Klima, das von der Gier der Schulfunktionäre und der Furcht der Sportler geprägt ist, konnte Coach Sandusky in Penn State operieren, ohne fürchten zu müssen, von einem Opfer entlarvt zu werden. Am Eingang des Beaver Stadium errichtete die Schule ein Denkmal für Cheftrainer Joe Paterno. Dort steht er in Bronze gegossen, mit legendär schlecht sitzendem Jackett, Hochwasserhose, Kassengestell-Brille. Auf einer Wand dahinter sein Ausspruch: „Ich hoffe, dass sie nach meinem Tod von mir sagen werden, ich hätte Penn State zu einem besseren Ort gemacht. Nicht, dass ich ein guter Footballtrainer war.“ Es wird wohl genau so kommen, wie er es nicht wollte.