Niklas* ist 15 Jahre alt. Er lebt mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder in einer Altbauwohnung in einer Großstadt. Seit drei Jahren besucht er ein Internat, deshalb kommt er zurzeit nur am Wochenende nach Hause. Wenn man Niklas reden hört, könnte man ihn für einen Musterschüler halten. Doch die Realität sieht anders aus. Die Schule lähmt und langweilt ihn.
fluter: Deine Eltern sagen, dass sie ganz verzweifelt sind, weil du große Schwierigkeiten hast, dich den Anforderungen der Schule zu stellen.
Ich komme einfach nicht mit dem System klar, vor allem nicht mit der Notengebung. Besonders schwer tue ich mich mit der mündlichen Mitarbeit. Ich kann aber auch nicht nachvollziehen, warum die mündliche Beteiligung 60 Prozent der Note ausmacht.
Hast du Angst davor, in die Schule zu gehen?
Das würde ich so nicht sagen. Bei mir ist es nur so, dass ich mich erst mit Leuten verstehe, wenn ich sie länger kenne.
Leidest du körperlich unter der Schule?
Nicht direkt, ich bin nur oft müde. Es kommt selten vor, dass ich mich richtig ausgeschlafen fühle. Wenn ich in der Schule sitze, leide ich am meisten darunter, dass die Zeit so langsam vergeht. Der Unterricht kann einem wirklich endlos vorkommen, und die Abläufe gleichen sich Tag für Tag und Woche für Woche. Ein endloser Kreislauf, in dem man nur darauf wartet, dass das nächste Wochenende oder die nächsten Ferien kommen.
In seinem Buch „Wenn Schule krank macht“ schreibt der Pädagoge Kurt Singer, dass die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler angibt, zumindest gelegentlich Angst vor der Schule zu haben. Ursachen dafür sind Leistungsanforderungen und Zensuren, aber auch Kränkungen durch Lehrer und Mitschüler. In gravierenden Fällen wird die Schule als bedrohlicher und auswegloser Ort empfunden, dem man ohne Einflussmöglichkeiten ausgeliefert ist. Besonders bei jüngeren Schülern schlägt die Angst häufig in körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, Übelkeit oder Schlafstörungen um.
Wann haben deine Schwierigkeiten mit der Schule angefangen?
In der ersten und zweiten Klasse lief es noch gut, da hatten wir auch eine sehr nette Klassenlehrerin. In der dritten Klasse fing es damit an, dass ich die Hausaufgaben oft nicht gemacht habe, und dann ging es allmählich abwärts. Nach dem Wechsel aufs Gymnasium in der siebten Klasse ging es gar nicht mehr. Ich habe kaum noch was für die Schule getan. Oft habe ich mich morgens mit einem Freund getroffen, und wir sind rumgelaufen oder mit der S-Bahn in die Stadtmitte gefahren.
Ist das nicht aufgefallen?
Nein, irgendwie nicht. Das hat mich auch gewundert. Ich habe aber auch nicht monatelang durchgehend geschwänzt, sondern nur immer mal wieder für ein oder zwei Tage. Den Lehrern war das anscheinend egal. Es war eine komische Schule. Nach dem ersten Kennenlernen fiel es mir schwer, mich auf Dauer mit den neuen Mitschülern gut zu verstehen. Alle haben immer so einen auf cool gemacht. Es war zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass jemand demonstrativ weggeschaut hat, wenn man mit ihm geredet hat. Die meisten kamen nicht gerade aus ärmlichen Verhältnissen, und trotzdem hat jeder irgendeinen Scheiß gebaut. Letztes Jahr gab es sogar eine Messerstecherei auf dem Schulhof.
Kam es dir nicht ziemlich sinnlos vor, auf öffentlichen Plätzen herumzuhängen?
Damals vielleicht. Heute wäre ich auf jeden Fall lieber am Alexanderplatz als in der Schule. Ich habe neun Stunden Unterricht am Tag, und dazu kommt dann noch mindestens eine Stunde Hausaufgaben. Ich sehe nicht ein, warum ich das machen soll.
Die siebte Klasse musstest du dann wiederholen.
Auf meiner damaligen Schule konnte ich aber nicht bleiben, weil ich das Probejahr nicht bestanden hatte. Deshalb bin ich auf ein Internat gewechselt. Das war das einzige Gymnasium, auf dem ich die Siebte wiederholen konnte.
Warum wolltest du unbedingt weiter aufs Gymnasium gehen?
Meine Mutter hat einen Doktortitel, mein Opa ist Professor, meine Oma war Dolmetscherin und hat ebenfalls einen Doktortitel. Mein Vater ist Architekt. Es war irgendwie selbstverständlich, dass ich ein Gymnasium besuche, gute Noten habe und Abitur mache. Nicht nur für meine Familie, sondern auch für mich.
Kurt Singer zeigt auch, dass Eltern sich bei den Erwartungen an die Leistungen ihrer Kinder vor allem an den eigenen Erfahrungen mit der Schule orientieren. Das Kind soll mindestens das erreichen, was man selbst erreicht hat. Die Kinder neigen wiederum dazu, diese Erwartungen zu verinnerlichen, auch wenn sie gar nicht ausgesprochen werden. Vorhandene Lernschwierigkeiten werden dadurch verstärkt. Wenn es in der Schule nicht läuft, lastet auf den Eltern ein ebenso hoher Druck wie auf den Kindern.
Lief es auf dem Internat besser?
Ja, da hatte ich mir dann auch fest vorgenommen, mehr zu machen. Am Ende der Siebten hatte ich einen Schnitt von 1,8. Ich bekam Tabletten. Meine Psychologin sagte, dass ich ADHS habe, also dieses Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Mache ich etwa den Eindruck, als ob ich ADHS hätte? Ich bin weder hibbelig noch hyperaktiv. Ich habe einen Freund, der hat wirklich ADHS, eigentlich ein netter Kerl, aber er dreht völlig auf und wird aggressiv, wenn er seine Tabletten nicht nimmt. Einmal hat er ein Mädchen mit dem Kopf gegen die Heizung gedrückt. So bin ich nicht. Im Gegenteil. Ich merke aber, dass es mir sehr schwer fällt, mich zu konzentrieren. Vielleicht liegt es daran, dass ich immer neue Tabletten und Dosierungen bekommen habe. Auf jeden Fall sind meine Noten nach der Siebten wieder schlechter geworden. Jetzt stehe ich bei 3,5.
Wie kam es dazu, dass du bei einer Psychologin gelandet bist?
Ich hatte nicht nur schlechte Noten, sondern habe mich auch ständig mit meiner Mutter gestritten. Oft bin ich abends länger weggeblieben, als ich durfte. Die Schülerhilfe hat auch nichts gebracht. Die erste Psychologin, bei der ich war, hat viel mit mir geredet, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Die Frau, zu der wir dann gegangen sind, hat nach der ersten Stunde ein leichtes Zittern in meinem linken Finger registriert und war sich sofort sicher, dass ich ADHS habe. Seitdem habe ich ADHS.
Wie war es für dich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen?
Es war schon komisch, zum ersten Mal dort hinzugehen. Ich dachte damals, dass Psychologen nur für Geisteskranke zuständig wären, dabei hatte ich gar nicht das Gefühl, geisteskrank zu sein.
Haben deine Eltern darauf bestanden?
Ich dachte irgendwann auch, dass es vielleicht was bringt und es mir dann leichter fällt, mich zum Lernen zu überwinden. Hat es was gebracht? Nein. Ich weiß nicht, was Psychologen lernen, aber es gab keinerlei Erfolge. Ich bekam erst das Medikament Ritalin, aber davon wurde mir schnell heiß, und es ging mir auch sonst nicht gut. Dann habe ich vier andere Präparate in verschiedenen Dosierungen genommen. Ich kam mir vor wie ein Versuchskaninchen und saß nur noch allein rum. Inzwischen nehme ich keine Tabletten mehr. Alle paar Monate gehe ich noch zu der Psychologin, aber ich verstehe mich überhaupt nicht mit ihr. Meine Mutter will jetzt, dass ich woanders hingehe. Sie kommt auch nicht klar damit, dass ich am Wochenende so viel Zeit vor dem Computer verbringe.
Therapeutische Gespräche können dazu beitragen, dass Jugendliche ihre schulischen Probleme wahrnehmen und anerkennen. Voraussetzung dafür ist allerdings ein offenes und vertrauensvolles Verhältnis zum Therapeuten. Niklas’ Eltern haben sich die Entscheidung, eine Psychologin aufzusuchen, nicht leicht gemacht. „Niklas sucht keinerlei Herausforderung“, sagt sein Vater. „Ihm fehlt etwas, woran er sich messen kann.“
Kannst du die Sorgen deiner Eltern nachvollziehen?
Ja, klar. Ich habe mir auch immer wieder vorgenommen, mehr für die Schule zu tun. Aber es kommt immer der Punkt, an dem ich nicht mehr denke: Ich mach das jetzt, sondern: Ich lasse es einfach. Inzwischen haben meine Eltern es aufgegeben, mich zum Lernen zu bewegen. Sie haben eingesehen, dass es nichts bringt.
Und wie, denkst du, geht’s weiter?
Ich werde nicht noch eine Klasse wiederholen. Wenn ich die Neunte nicht schaffe, gehe ich auf eine Sekundarschule und mache nach der Zehnten eine Ausbildung. Ich mache 3-D-Animationen fürs Internet. Etwas in dieser Richtung würde ich gerne beruflich machen, darauf kann ich mich stundenlang konzentrieren. Wenn mir etwas Spaß macht, merke ich gar nicht mehr, wie die Zeit vergeht. Bei Dingen, die mich nicht interessieren, funktioniert das nicht. Ich muss mich immer wieder aufs Neue überwinden, und das bekomme ich einfach nicht hin. Warum sollte ich mich quälen, um dann doch wieder eine schlechte Note zu bekommen?
*Name von der Redaktion geändert
Heiko Zwirner lebt zusammen mit seinem 16-jährigen Sohn und kann die Sorgen von Niklas' Eltern deshalb sehr gut nachvollziehen. Er kann sich aber auch noch genau daran erinnern, wie sinnlos und leer einem Heranwachsenden die Schule vorkommen kann.