Dieser Film erzählt von zwei Bomben. Die erste, hinlänglich bekannte, war eine Kiste, die mit rund 700 Zimmermannsnägeln von einer Länge zwischen 10 und 15 Zentimetern und mehreren Kilo Schwarzpulver gefüllt war. Sie war auf dem Gepäckträger eines Fahrrads montiert, das ein Mann am Nachmittag des 9. Juni 2004 vor dem Friseurladen „Kuaför Özcan“ abstellte. Als sie wenig später explodierte, wurden 22 Menschen verletzt, zum Teil schwer. Es kam einem Wunder gleich, dass niemand starb.
Die zweite Bombe dann sei das System, die Justiz, der Rechtsstaat gewesen, der nicht funktioniert habe, sagt Meral Sahin, die in der Keupstraße ein Geschäft für Deko und Brautmode betreibt. „Die größere Bombe“, findet Sahin. Die hinterließ beträchtliche Schäden, die man bis heute in Köln-Mülheim spürt. Davon erzählt der Dokumentarfilm „Der Kuaför aus der Keupstraße“ von Andreas Maus.
Natürlich wissen wir längst: Der Mann, der das Fahrrad vor dem Friseurladen abstellte, war Uwe Mundlos. Zusammen mit Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bildete er den Kern der rechtsradikalen Terrorgruppe NSU. Sie haben zehn Menschen getötet und zahlreiche Anschläge in verschiedenen Teilen Deutschlands verübt. Doch in den sieben Jahren zwischen der Tat im Juni 2004 und deren Aufklärung im November 2011 standen die Opfer im Verdacht, indirekt selbst verantwortlich für den Anschlag zu sein.
Als die Bombe explodierte, war das erst der Anfang, erzählt Özcan Yildirim. Sein Laden war komplett verwüstet, alle standen unter Schock. Ein Mann lag vor dem Laden, war blutüberströmt. Abseits stand ein Polizist. Seine erste Frage an Yildirim war, ob er versichert sei. Das hätte ihn „unglaublich gekränkt“, sagt der Kuaför leise, faltet die Hände zusammen, seine Lippen ganz schmal. Warum fragen die das?
Für die Behörden war schnell klar: Es muss organisierte Kriminalität gewesen sein. Otto Schily, damals Innenminister, sagte in den Nachrichten: „Die Erkenntnisse unserer Sicherheitsbehörden deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern eher auf ein kriminelles Milieu.“
Was das für die meist türkischstämmigen Bewohner der Keupstraße bedeutet, beleuchtet der Film von Andreas Maus ruhig, aber eindringlich. Wieder und wieder werden Özcan Yildirim, sein Bruder Hasan und ihre Frauen von der Polizei befragt, oft stundenlang. Abdulla Özkan, der zum Zeitpunkt der Detonation beim Friseur war, erzählt, er sei von Anfang an nicht als Zeuge, sondern als Verdächtiger behandelt worden.
In abstrakt gehaltenen Szenen werden die Protokolle der damaligen Polizeibefragungen mit Schauspielern nachgestellt. Sie sind bedrückend. „Haben Sie Schulden? Wurden Sie schon mal erpresst? Gab es verdächtige Anrufe, möglicherweise auch aus der Türkei, in denen Sie oder Ihr Bruder bedroht wurden?“ Schnell wurde gemutmaßt, es gebe Verbindungen zur „kriminellen Türsteherszene“ und zum Rotlichtmilieu. Ob denn die rechte Szene dahinterstecke, will Abdulla Özkan in einer Befragung wissen. „Nein, ist ausgeschlossen“, antwortet der Ermittler.
Andreas Maus rutscht nicht in anklagendes Pathos oder polternde Empörung. Stattdessen lässt er immer wieder Pausen. In denen sieht man das Bild einer Überwachungskamera. Es zeigt einen Mann, der ein Fahrrad schiebt. Er wirkt wie ein Geist.
Die betroffenen Familien leiden unter der Vorverurteilung. Ihre Namen stehen in der Zeitung, ihre Kinder werden auf dem Pausenhof gemieden, Freundschaften enden, Ehen zerbrechen, Nachbarn verdächtigen sich gegenseitig. Das Misstrauen zieht in die Straße ein. Sogar verdeckte Ermittler werden auf die Familien angesetzt. Nur: Sie finden nichts. Als die Kölner Staatsanwaltschaft 2008 die Arbeit aus Mangel an Beweisen einstellte, blieb ein hartnäckiges Stigma an den betroffenen Familien haften.
Auch heute ist man in der Keupstraße uneins, was die Aufarbeitung der Ereignisse angeht. Während die Brüder Yildirim den Besuch zum zehnten Jahrestag des Attentats von Bundespräsident Joachim Gauck durchaus schätzen, empfindet Abdulla Özkan ihn als leere Geste. Hilfe hätte er nie bekommen, berichtet er. Und dass er seit dem Anschlag chronische Schmerzen habe. Während er dies sagt, blättert er durch die drei dicken Aktenordner, in denen er fein säuberlich den Schriftverkehr abgeheftet hat.
Die Geschichte, die „Der Kuaför aus der Keupstraße“ erzählt, ist kein Einzelfall: Bei den NSU-Anschlägen in anderen Städten wurden auch meist die Opfer, ihre Angehörigen und ihr weiteres Umfeld verdächtigt. Ein rechtsextremer Hintergrund wurde weitgehend ausgeschlossen.