Chinas Wirtschaft wächst nun schon drei Jahrzehnte in einem Tempo, das den Rest der Welt staunen macht. Heute ist das Land die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Erde. Dirigiert wurde dieses Wachstum von derselben Kommunistischen Partei, die China im Chaos der 1960er- und 1970er-Jahre in Ruinen gelegt hatte. Das Wirtschaftswunder der letzten Jahre aber hat geholfen, mindestens 400 Millionen Menschen in China aus der Armut zu befreien. In den Städten ist eine neue Mittelschicht entstanden, die sich Autos und Eigentumswohnungen leistet, die bei Starbucks Cappuccino trinkt und im Apple-Shop das neue iPad kauft.
Aus China ist die Werkstatt der Welt geworden, im ganzen Land sind Hunderttausende Fabriken entstanden. Die Menschen haben höhere Einkommen, viele haben erstmals überhaupt einen bezahlten Job, Hunderte von Millionen haben das Bauernland ihrer Eltern verlassen und sind in die Städte gezogen. Der gewaltige Urbanisierungsschub, den China durchmacht – mittlerweile lebt jeder zweite der 1,3 Milliarden Chinesen in der Stadt –, hängt eng zusammen mit dem Schwinden der Armut. Ihre Erfolge bei der Armutsbekämpfung haben der Partei in Peking viel Beifall eingebracht und werden von ihr gerne benutzt, um die vermeintliche Überlegenheit ihres „Sozialismus chinesischer Prägung“ gegenüber westlichen Entwicklungsmodellen zu behaupten.
Der Kommunismus ist nun ein Kaderkapitalismus
Und dennoch sehen sich die KP und ihre autoritäre Regierung im Moment gerade im eigenen Land und gerade aus den Reihen der Mittelschicht und der noch immer Armen so viel Kritik ausgesetzt wie schon seit Langem nicht. Es ist nämlich einiges aus dem Ruder gelaufen bei der Entwicklung. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist so gewaltig wie noch nie. China nennt sich noch immer kommunistisch, in Wirklichkeit herrscht ein Kaderkapitalismus, der dem Land grassierende Korruption und eine kleine Schicht von sagenhaft reichen Profiteuren beschert hat. Den 251 Dollarmilliardären stehen noch immer 150 Millionen Chinesen gegenüber, die weniger als einen Dollar am Tag verdienen. Das angeblich sozialistische China ist mittlerweile eines der ungleichsten Länder der Welt. Im September erst empörten Bilder aus dem Landkreis Shunhe in Hubei Chinas Internetnutzer: Man sah, wie dort Tausende von Schülern ihre eigenen Stühle und Tische in die Dorfschulen schleppen mussten, weil die Schule kein Geld dafür hatte. Gleichzeitig hatte sich die zuständige Kreisstadt einen wahren Palast von Regierungsgebäude zugelegt, den die Einheimischen „Weißes Haus“ nennen und der soeben erst für 1,5 Millionen Euro renoviert wurde.
Als die Parteipresse jüngst die Bürger nach den Themen befragte, die Chinas Entwicklung ins Stolpern bringen könnten, stand die Kluft zwischen Arm und Reich bei den Antworten ganz oben. Peking weiß um die Brisanz. Auch deshalb hat China im letzten Jahrzehnt versucht, die ersten Stränge eines sozialen Netzes einzuziehen. Gut ein Drittel der Bevölkerung wird nun von der Rentenkasse erfasst, und etwa 96 Prozent sind krankenversichert – vor ein paar Jahren war es gerade mal jeder Fünfte. Auch das ist ein Erfolg, doch stellt er die Kritiker nicht zufrieden: Die Versicherungsleistungen sind meist minimal. Wer im Krankenhaus eine größere Operation braucht, wird oft noch immer mit Eigenbeträgen zur Kasse gebeten, die mehrere Jahreseinkommen übersteigen, sodass viele auf die Behandlung verzichten. Chinas Wirtschaft ist die Nummer zwei hinter den USA? Mag sein, aber wer wissen möchte, wie es dem Volk geht, der schaut besser auf eine andere Zahl: das jährliche Pro-Kopf- Einkommen. Da standen die Chinesen in der Rangliste der Weltbank für´s Jahr 2011 auf Platz 94, hinter Algerien und Ecuador. Chinas Entwicklung ist beeindruckend, nachhaltig aber ist sie noch nicht.
Unser Autor ist China-Korrespondent der „Süddeutschen“. Er hat das Buch „Gebrauchsanweisung für China“ geschrieben.