Der Mann, der die Sekunde genauer misst als jede Uhr, der sich ihr mit Laser, Ionenfalle und Atomofen nähert, sie bis auf die 15. Stelle hinter dem Komma bestimmt und dann noch nicht zufrieden ist, der Mann also, der die Zeit so genau kennt wie niemand sonst in Deutschland, dieser Mann sagt: "Ich habe keine Ahnung, was Zeit ist."
Robert Wynands blickt herausfordernd, er lächelt, das gefällt ihm. Er findet es faszinierend, wenn Erwartungen enttäuscht und sicher Geglaubtes in Frage gestellt werden. Nichts anderes als diese Faszination sei Wissenschaft. "Ich weiß es wirklich nicht", sagt Wynands. "Ich weiß nur, wie ich die Zeit messen kann." Das ist eine Untertreibung.
Robert Wynands, Leiter der Arbeitsgruppe Zeitnormale an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig, kennt alle Möglichkeiten, einen Tag, eine Stunde, eine Minute oder eine Sekunde zu berechnen - durch den Stand der Sonne, verrinnenden Sand oder schwingende Quarzkristalle. Doch diese Methoden sind ihm zu ungenau. Er kann sie nicht gebrauchen für die Aufgabe, die der Staat ihm und seinen Kollegen durch das Zeitgesetz von 1978 übertragen hat - die Zeit herzustellen.
Robert Wynands ist der Herr der Uhren in Deutschland: Er und seine Kollegen in der PTB bestimmen die offizielle Zeit, nach der jeder Mensch in Deutschland lebt. Er benutzt Atome dafür, in eigens gebauten Atomuhren. Um genau zu sein - und exakt darum dreht sich seine Arbeit, um präziseste Präzision -, verwendet Robert Wynands Atome einer besonderen Art: Cäsium-133-Atome. Eine Sekunde ist genau das 9192631770fache der Schwingungsdauer einer charakteristischen Resonanz dieser Cäsium-Atome. "Aber wer das wirklich verstehen will, muss schon Quantenmechanik betreiben", sagt er.
Der Physiker erklärt seine Arbeit lieber so: "Wir machen die Zeit. Und dafür haben wir hier ein paar Uhren, die besonders gut gehen." Mit diesen Uhren gibt Wynands die Zeit per Funk an die übrigen Uhren in Deutschland weiter. Was Zeit aber eigentlich genau ist, kann er nicht sagen. Das will er auch gar nicht. Robert Wynands findet, dass Zeit gerade deshalb so spannend ist, weil niemand genau erklären kann, was Zeit ist - nicht einmal Hüter der Zeit wie er.
Robert Wynands ist ein schmächtiger Mann mit kurzen, schwarzen Haaren und einem Vollbart, der an manchen Stellen schon ergraut ist. Der 42-Jährige sitzt in seinem Büro, Raum 114 im Zeitlabor der PTB, hinter sich ein großes Fenster hinaus ins Grüne, vor sich einen Computer. An den Wänden hängen eine alte Schiefertafel wie aus der Schule, auf die mit Kreide wilde Gleichungen geschrieben sind, und zwei Poster von Vogelschauen in amerikanischen Zoos. Die "Vogelguckerei", wie Wynands es nennt, das Ausspähen seltener Vögel, ist sein Hobby.
In einem Regal stehen die Bücher, die er für seine Arbeit benötigt: Nachschlagewerke über Atomfrequenzstandards oder Laserspektroskopie. Robert Wynands zieht einen Ordner aus dem Regal. Er sammelt darin die Versuche von Philosophen und Wissenschaftlern, die Zeit zu ergründen. Ganz gut gefällt ihm der Ausspruch des Theologen Augustinus: "Was ist Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht." Rund 1600 Jahre alt und immer noch treffend. "Zeit ist einfach etwas ganz Besonderes", sagt Wynands, "gerade in der Physik." Denn obwohl man sie nicht genau erklären kann, ist die Zeit die Größe, die sich von allen physikalischen Größen wie Masse oder Temperatur am genauesten messen lässt - bis in Bereiche, die sich eigentlich jedem Verständnis entziehen.
In der PTB haben sie 1999 eine Atomuhr gebaut, mit der sie eine Sekunde bis auf die 15. Stelle nach dem Komma exakt messen können. Das bedeutet, dass es 30 Millionen Jahre dauern würde, bis diese Uhr eine einzige Sekunde falsch ginge. Robert Wynands findet das ganz ordentlich, wenn er die Geschichte der Uhren bedenkt.
Die Physiker der PTB haben diese Geschichte im Zeitlabor nachgezeichnet, in einer Ausstellung an den Wänden eines langen Ganges. Manchmal kommen Schulklassen zu Besuch, manchmal auch Gruppen von Uhrmachern, die sehen wollen, wo die Zeit in Deutschland herkommt. Sie werden alle in diesen langen Gang geführt. Am Anfang des Ganges hängt ein Poster mit einem berühmten Bild des Malers Salvador Dalí, auf dem zerfließende Uhren zu sehen sind, die zu schmelzen scheinen. Am Ende des Ganges liegt das Herz der PTB - die Atomuhrenhalle. Da kommt die Zeit her.
Jeder Schritt den Gang hinab ist ein Fortschritt in der Geschichte der Uhren. Robert Wynands steht ganz am Anfang, als die einzige Uhr die Erde selbst war. Die Zeitspanne, die sie braucht, um sich einmal um sich selbst zu drehen, ist ein Tag - die erste Zeiteinheit. "Aber wie unterteilt man einen Tag?", fragt Wynands und beginnt zu gehen. "Da mussten sich die Menschen eine eigene Unterteilung überlegen, die möglichst praktisch war." So entstanden die Stunden, mit Hilfe der Sonne einfach zu unterscheiden: Die erste Stunde begann mit Sonnenaufgang, die zwölfte Stunde endete mit Sonnenuntergang.
Es gab nur ein Problem: Die Erde ist keine besonders genaue Uhr. Sie dreht sich nämlich nicht gleichmäßig, das hat mit den Bewegungen des Magmas im Erdinneren zu tun. "Die Erde taugt einfach nicht als Zeitmesser", sagt Wynands, "wir müssen also eigene Uhren bauen." Sonnenuhren bringen wenig, weil mit der Sonne gemessene Stunden je nach Jahreszeit unterschiedlich lang sind. Also erfanden die Menschen Wasseruhren, die jede Stunde gleich lang machten, experimentierten mit Sand- oder Lichtuhren und schufen schließlich mechanische Uhren, mit denen es möglich war, die Stunde in Minuten und die Minute schließlich in Sekunden zu unterteilen. Diese Uhren, die Zeit erst mit schwingenden Pendeln und Spiralfedern, später mit schwingenden Quarzkristallen maßen, gingen genauer, doch immer noch ein bisschen falsch: alte Modelle eine Sekunde am Tag, moderne Quarzuhren immerhin noch eine Millisekunde.
Einem Menschen, der nur den Bus nicht verpassen will, kann das egal sein. Einem Physiker nicht. Von der Zeit hängt viel ab, andere Größen wie die Kraft zum Beispiel oder auch die Fähigkeit, einen Satelliten durchs Weltall zu steuern. "Wir wollen die Zeit deshalb so genau messen wie nur möglich", sagt Wynands. Er ist jetzt fast am Ende des Ganges angekommen. Hier, wo in der Geschichte der Uhren die Zeit der Atomuhren beginnt, haben die Physiker ein Plakat aufgehängt, auf dem sie die Genauigkeit aller Uhren in einer steigenden Kurve zeigen. Am Ende der Kurve klebt ein roter Punkt. Er zeigt die Genauigkeit ihrer neuesten Atomuhr, jener, die erst in 30 Millionen Jahren eine Sekunde falsch geht. Sie heißt CSF1, das steht für "Cäsiumfontäne 1". Aber die Physiker in der PTB nennen sie nur "die Fontäne". Sie ist ihr ganzer Stolz - eine der besten Uhren der Welt.
So sieht sie gar nicht aus. Robert Wynands zieht die Doppeltür am Ende des Ganges auf, schreitet durch die Schleuse dahinter, öffnet eine weitere Tür und weist mit knapper Geste hinein. "Unsere Sammlung", sagt er. Der Atomuhrensaal ist ein weiter und hoher Raum, dessen Wände mit rostrotem Kupfer verkleidet sind, das im starken Licht der Neonröhren sanft schimmert. Die zu Gruppen zusammengestellten Geräte der Physiker - Regale voller Monitore, Computer, Laser und Oszillographen - wirken in der Weite des Raumes wie kleine Inseln.
In der Luft liegen ein sachtes Sirren, das sind die Lüfter der Computer, und ein leichtes Ticken, das sind Laserstrahlen, die unterbrochen werden. Die Atomuhren selbst machen kein Geräusch. Sie stehen inmitten der kleinen Geräte-Inseln, wie Türme ragen sie heraus. Sie sind zu viert. CS1, CS2 und CS3 – die alte Generation. Und hinten rechts CSF1, die Fontäne, die neue Generation. Jeweils ein hoher Schrank mit ein paar Schaltern und Kabelbuchsen und daneben eine dicke Röhre, mit einem Schott an jedem Ende verschlossen. Bei der Fontäne steht die dicke Röhre aufrecht, auch hat sie noch ein paar Laser dran. Das ist alles. Robert Wynands kennt die Enttäuschung. "Sehen wie Kisten aus, ich weiß", sagt er, "sie sind aber hoch komplexe Gebilde."
Wynands spricht leise, auch bewegt er sich vorsichtig. Die Atomuhren sind höchst empfindlich. Deswegen ruht die Atomuhrenhalle auf einem eigenen Fundament, deswegen wird die Temperatur ständig überwacht, sind die Wände mit Kupfer verkleidet und die dicken Röhren der Atomuhren aus Titan - um jeden noch so kleinen Einfluss auf die Atome auszuschließen. Viele Besucher glauben, spätestens wenn sie die kupfernen Wände sehen, dass Atomuhren radioaktive Strahlung absondern. Wynands ärgert das. Atom-uhren haben mit Strahlung nichts zu tun: Cäsium-133-Atome sind nicht radioaktiv. Wäre auch schön blöd, erklärt er: Mit radioaktiven Atomen, also Atomen, die zerfallen, könne man schlecht eine Uhr bauen, weil Uhren ja vor allem stabil und genau sein müssen. Erst recht die hier in der Atomuhrenhalle. Schließlich bestimmen sie die Zeit in Deutschland.
Im Moment nehmen Robert Wynands und seine Kollegen die offizielle Zeit Deutschlands von der CS2 ab, der "Cäsiumuhr 2". Aus dieser Zeit machen sie "das langweiligste Radioprogramm der Republik - obwohl wir jede Minute das Programm ändern und noch nie das Gleiche gesendet haben". Nach der CS2-Zeit steuern die Physiker drei kleinere Atomuhren, die in der Nähe von Frankfurt am Main stehen, in Mainflingen. Dort wird die Uhrzeit der CS2 in Radiosignale umgewandelt.
Diese Signale sendet dann ein Langwellensender, der "Zeitsignalsender DCF77", an alle Funkuhren in Deutschland: an die Bahnhofsuhren, die Uhren der Radio- und Fernsehstationen - und an jeden Funkwecker im Umkreis von 2000 Kilometern. "Dazu kann man gut tanzen", scherzt Wynands mit gedämpfter Stimme, "ganz genau 60 beats per minute, der perfekte langsame Walzer, das schafft CS2 besser als ein Orchester." Die übrigen Atomuhren dienen der Kontrolle von CS2 und der Forschung. Denn Herstellung und Versand der Zeit sind nur eine Seite der Arbeit im Zeitlabor der PTB. Die andere Seite beschreibt Wynands so: "Wir sind auf der Suche nach der perfekten Zeit."
Für diese Suche haben Wynands' Kollegen neben der Fontäne große Tische aufgebaut, voll mit seltsamen Apparaten und flimmernden Monitoren, zwischen denen rote, grüne und blaue Kabel hin und her laufen, wie nach einem wirren und geheimen Plan. In der Mitte steht eine Art Waschmaschinentrommel. "Eine Ionenfalle", sagt Robert Wynands in achtsamer Entfernung, "wir messen gerade Übergänge von Ytterbium-Ionen." Er meint: Seine Kollegen testen gerade die Zukunft. Eine Zukunft, in der sie die Zeit noch präziser messen wollen als ohnehin schon: Mit der Fontäne kühlen sie ihr Cäsium fast bis auf die kälteste Kälte hinunter, so dass die Atome langsam und träge werden und deswegen mit Lasern leicht angeschubst werden können, in die aufrechte Röhre von CSF1 hinein.
Dort spritzen sie ganz gemächlich nach oben und fallen dann wegen der Schwerkraft wieder nach unten, wie Wasser in einem Springbrunnen. Wenn man die Atome dabei mit Mikrowellen beobachtet, kann man die Sekunde auf 15 Stellen hinter dem Komma messen. Das ist den Physikern der PTB aber nicht gut genug. "Es geht noch besser", sagt Robert Wynands leise. Dann deutet er auf einen grauen Videoschirm über der Ionenfalle. Der Monitor zeigt viele winzige Punkte, die unterschiedlich hell leuchten, es sieht aus wie der Sternenhimmel in einer klaren Winternacht. "Da, der eine Punkt da, der helle Lichtfleck - das ist das Ion." Seine Kollegen haben es gefangen. Ein einzelnes Ion. Sie hoffen, dass sie um so ein Ion herum bald eine neue Uhr bauen können. Präzise bis auf die 18. Stelle hinter dem Komma. Die Zukunft.