Fluter.de: Vorweg, was genau macht eigentlich ein Digitalhistoriker?
Jens Crueger: Es gibt zwei Facetten. Einerseits analysieren immer mehr Geschichtswissenschaftler historische Quellen mit modernen, digitalen Methoden. Mein eigener Schwerpunkt liegt auf der zweiten Facette. Ich beschäftige mich mit Quellen, die in den letzten 20 Jahren im digitalen Raum entstanden sind – also Webseiten, Blogs oder Social-Media-Postings. Das ist noch Neuland für die Geschichtswissenschaft.
Was macht diese digitalen Quellen interessant?
Durch Postings auf Blogs oder in sozialen Netzwerken gibt es eine Vielzahl von „Ego-Dokumenten“ – also Quellen, die darüber Aufschluss geben, wie Menschen sich selbst und ihre Umwelt sehen. Früher waren das Tagebucheinträge oder Briefe. Solche Quellen sind besonders wichtig, wenn man sich als Historiker nicht nur mit großen Ereignissen und Staatsmännern beschäftigen will, sondern auch mit der Alltagswelt. Sie geben außerdem einen spannenden Einblick, wie wichtige Ereignisse wie Wahlen oder auch Terroranschläge in unterschiedlichen Teilen der Bevölkerung wahrgenommen wurden.
Fotografiertes Essen, Schminktutorials oder Eistee im Sonnenuntergang – das Internet ist ziemlich voll mit banalen Inhalten. Wie findet man in der Masse wirklich relevante und wichtige Quellen?
Aus vielen vergangenen Epochen gibt es verhältnismäßig wenig Quellen. Nun stehen wir vor einem umgekehrten Problem. Es gibt viel zu viele Inhalte. Deshalb müssen wir „weglassen“. Die Unterscheidung zwischen „banal“ und „nicht banal“ würde ich dabei gar nicht machen. Auch Instagram-Bilder und Youtube-Tutorials sind spannende Zeugnisse unserer Zeit. Ich würde eher dafür plädieren, einen kleinen Anteil des täglichen Contents mithilfe von Algorithmen automatisch zu archivieren, und zwar in ganzer Bandbreite – von Shopping-Webseiten über Blogs bis zu Computerviren. Das wäre eine großartige Fundgrube für künftige Generationen.
„Völlig unterschätzt sind Shopping-Plattformen wie Amazon und Ebay – niemand kümmert sich um ihre Archivierung“
Aber wie lassen sich diese gigantischen Datenmengen auswerten?
Digitale Quellen lassen sich im Gegensatz zu historischen Büchern oder Pergamenten problemlos mit Suchmechanismen analysieren – sogar in großen Mengen. Allerdings sind nicht nur Big-Data-Ansätze wichtig. Bei alten Quellen schauen die Historiker gerne auf das individuelle Einmalige, auf kleinste historische Details. Diese Betrachtungsweise sollte auch in der digitalen Welt nicht aussterben. Voraussetzung ist dafür allerdings eine sehr genaue Auswahl der Quellen.
Kann ich auch heute schon irgendwo die Geschichte des World Wide Web erleben?
Ich empfehle jedem Geschichtsinteressierten die Wayback Machine des Internet Archive. Dort sind über 327 Milliarden Webseiten gespeichert, und zwar seit 1996. Man kann sich wie in einem virtuellen Freilichtmuseum Internetseiten aus längst vergangenen Tagen ansehen. Das ist eine spannende, zuweilen sehr kuriose Zeitreise. Historiker nutzen auch Wikipedia gerne als Quelle. Dort lassen sich nämlich alle Änderungen genau nachvollziehen, und zwar über Jahre hinweg. Auch soziale Netzwerke sind beliebte Quellen, gerade wenn es darum geht, bedeutende Ereignisse besser einzuordnen. Die Kongressbibliothek der USA archiviert zu diesem Zwecke Twitter-Botschaften – aufgrund unzureichender Speicherkapazitäten allerdings nur noch ausgewählte. Völlig unterschätzt sind dagegen beispielsweise Shopping-Plattformen wie Amazon und Ebay. Sie sind für viele Menschen wichtige Anlaufstellen und historisch betrachtet Treiber der Webentwicklung. Trotzdem kümmert sich niemand um die Archivierung ihrer Angebote. Alte Versandhauskataloge gibt es dagegen in vielen Archiven.
Apropos Twitter. Donald Trumps Tweets sind doch bestimmt eine gute Quelle für Digitalhistoriker.
Auf jeden Fall. Allein daraus und insbesondere aus seinen diversen Entgleisungen und Ausfällen auf Twitter ließe sich eine gute Biografie schreiben. Trump steht außerdem für den rasanten Wandel von politischer Aufmerksamkeit: weg von den klassischen, hin zu den digitalen Medien. Aber auch sonst beeinflusst er die Arbeit von Historikern. Kurz nach seinem Wahlsieg kündigte das Internet Archive an, eine vollständige Kopie seines Datenbestands nach Kanada auslagern zu wollen. Projektgründer Brewster Kahle begründete dies mit dem von Trump angekündigten radikalen Politikwandel. Das war sicher kein PR-Gag, immerhin ist das Vorhaben sehr aufwendig und teuer. Hier geht es wohl eher um die Rettung von wichtigen Daten vor dem staatlichen Zugriff und den Erhalt von „Wahrheiten“ in postfaktischen Zeiten.
„Historische Quellen sollten frei zugänglich sein, und zwar für jeden“
Wie verändert sich unsere Erinnerungskultur in digitalen Zeiten?
Das ist eine spannende Frage. Was sind die Denkmäler und das Kulturerbe im World Wide Web? Wahrscheinlich gibt es darauf ganz viele unterschiedliche Antworten. Zum Beispiel werden Computerspiele zunehmend als Kulturgut wahrgenommen und in der Bedeutung längst mit Büchern oder Filmen verglichen.
Das Internet steht jedem offen. Steht es damit auch jedem frei, sein eigener Digitalhistoriker zu werden?
Historische Quellen sollten frei zugänglich sein, und zwar für jeden. Das Internet Archive und seine Wayback Machine sind dafür ein gutes Beispiel. Wenn ich dagegen in der Deutschen Nationalbibliothek auf archivierte Webseiten zugreifen will, kann ich das nur an den Rechnern im Frankfurter Lesesaal machen. Rechtlich geht das nicht anders, trotzdem ist es geradezu traurig, hier sollten die rechtlichen Rahmenbedingungen schnell verändert werden. Ähnliches gilt für die technischen Instrumente zur Auswertung der Quellen. Wir brauchen kostenlose Big-Data-Programme, die idiotensicher nutzbar sein müssen.
GIFs: Anthony Antonellis