Der Kanadier Steven Pinker von der Universität Harvard gilt weltweit als einer der einflussreichsten Denker. Trotzdem (oder gerade deshalb?) können ihm viele Menschen bei seiner wichtigste These nicht mehr wirklich folgen: Die Menschheit wird immer friedliebender? Die täglichen Nachrichten erwecken einen ganz anderen Eindruck. Das soll er bitte mal persönlich erklären.

Herr Pinker, wie lautet Ihre irre These nochmal genau?

Steven Pinker: Gewalt ist im Laufe der Geschichte immer weiter zurückgegangen. Und zwar alle möglichen Formen der Gewalt: Kriege, Morde, Folter, Hinrichtungen, Vergewaltigungen, häusliche Gewalt. Diese Dinge gibt es natürlich noch immer. Aber wir dürften heute in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert.

Wie kommt man auf so eine Idee?

Es begann damit, dass ich vor ein paar Jahren auf zwei erstaunliche Dinge gestoßen bin. Zum einen erfuhr ich, dass früher in Stammeskriegen deutlich mehr Menschen starben als in den Kriegen der Moderne, selbst als in den beiden Weltkriegen. Natürlich nicht in absoluten Zahlen, aber in Relation zur Gesamtbevölkerung. Das heißt: Früher war es wahrscheinlicher, im Krieg zu sterben. Zum anderen lernte ich, dass Mordraten in Europa enorm gesunken sind. Die Wahrscheinlichkeit, ermordet zu werden, war im Mittelalter und in der frühen Neuzeit um ein Vielfaches höher als im 20. Jahrhundert. Und wir wissen natürlich auch, dass es früher barbarische Praktiken gab, die man über Jahrhunderte als ganz selbstverständlich ansah, aber irgendwann abgeschafft hat. Zum Beispiel Menschenopfer, die Sklaverei, das Verbrennen von Ketzern oder andere sadistische Hinrichtungen vor johlendem Publikum. Im Dezember 2007 veröffentlichte ich darüber einen kurzen Text in einem Internetforum. Die Überschrift lautete: "Was macht Sie optimistisch?" Die Reaktionen waren sehr überraschend.

Wieso?

Historiker, Politikwissenschaftler und Psychologen kontaktierten mich. Und ich erfuhr: Es gibt noch sehr viel mehr Beweise für den Rückgang von Gewalt! Wenn man beispielsweise berechnet, wie viele Menschen in den vergangenen Jahrzehnten durch Krieg und Völkermord umkamen, geht die statistische Kurve steil nach unten. Kriege zwischen Großmächten, Kriege zwischen reichen Ländern, Kriege in Westeuropa - das war über Jahrhunderte die Norm, nun ist es ganz verschwunden. Selbst Gewalt in der Ehe, Missbrauch von Kindern, Prügelstrafen und Hassverbrechen sind zurückgegangen. Mir wurde klar: Ich bin auf eine große Geschichte gestoßen - die eigentlich nie erzählt wird. Ich nahm mir vor, die Menschen auf diese ungewöhnlichen Fakten aufmerksam zu machen. Und da ich Psychologe bin, wollte ich herausfinden, warum wir friedlicher geworden sind, wenn sich unsere Natur nicht geändert hat.

Warum fällt es so schwer, Ihnen zu glauben?

Weil wir alle gewohnt sind, die Welt durch die Brille der Medien zu sehen. Das führt systematisch in die Irre. Wenn Sie die Fernsehnachrichten einschalten, erfahren Sie immer nur von Dingen, die passiert sind. Nie von Dingen, die nicht passiert sind. Sie werden keinen Reporter sagen hören: "Ich berichte live aus einer Großstadt, in der kein Bürgerkrieg herrscht." Oder: "Ich stehe vor einer Schule, in der niemand Amok gelaufen ist." Solange die Gewaltrate nicht auf null gesunken ist, wird es immer genügend Grausamkeiten geben, um die Abendnachrichten zu füllen. Aber es wäre ein Trugschluss, daraus statistische Trends abzuleiten.

Und was ist mit Auschwitz, Stalingrad, Hiroshima? In der Schule lernen wir: Der Zweite Weltkrieg war das bisher ­blutigste Kapitel der Menschheitsgeschichte.

Wie können wir behaupten, er sei das blutigste Kapitel gewesen, ohne ihn mit anderen Kapiteln zu vergleichen? Auch früher haben sich Menschen Unfassbares angetan. Die europäischen Religionskriege, die Invasionen von Dschingis Khan, die Raub­züge von Tamerlan, viele Bürgerkriege und der Untergang ganzer Imperien in China, die Dezimierung der amerikanischen ­Ureinwohner, der Handel mit Sklaven aus Afrika …

Woher wollen Sie so genau wissen, wieviel Mord und Totschlag es damals gab?

Selbst für sehr frühe Phasen der Menschheit besitzen wir forensische Nachweise. Erschreckend viele prähistorische Skelette weisen Verletzungen auf, die auf einen gewaltsamen Tod schließen lassen: eingeschlagene Schädel, Schnittspuren an Gliedmaßen, Pfeilspitzen, die noch in den Knochen stecken. Ich habe mich aber vor allem mit den vergangenen Jahrhunderten beschäftigt. Und hier gibt es schriftliche Dokumente. Schon im Mittelalter begann man in zahlreichen Weltregionen, Morde akribisch zu dokumentieren, Historiker haben die Zahlen später tabellarisch erfasst. Außerdem ließen Herrscher immer wieder Volkszählungen durchführen, um Steuern zu erheben. Sie können sich sicher sein: Es fiel ihnen auf, wenn plötzlich ein paar Hunderttausend Steuerzahler fehlten.

So zuverlässig wie das statistische Bundesamt sind diese ­Quellen nicht …

Aber die Gewaltraten gehen nicht nur ein bisschen zurück, sondern massiv. Selbst wenn wir annehmen würden, dass die historischen Quellen um das Doppelte oder Dreifache danebenliegen - den logarithmischen Kurven würde man das kaum ­ansehen.

Warum sind wir friedlicher geworden?

Es gibt nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von Antworten. So haben zum Beispiel demokratische Regierungen dafür gesorgt, dass sich Menschen nicht mehr wahllos die Köpfe einschlagen. Der Aufstieg des Handels führte dazu, dass Menschen lebendig mehr wert waren als tot, denn mit Leichen macht man keine guten Geschäfte. Sobald Menschen anfangen zu handeln, ist es plötzlich billiger, Dinge zu kaufen als zu stehlen. Auch die Alphabetisierung hat beim Rückgang der Gewalt eine Rolle gespielt. Wenn wir Romane und Zeitungen lesen, lernen wir, uns in andere Menschen hineinzuversetzen und für fremdes Leid empfänglich zu werden. Und der Aufschwung von Bildung und Wissenschaft führte wiederum dazu, dass wir Gewalt - so wie Hunger oder Krankheit - als ein Problem begreifen konnten, das wir lösen wollen.

Sie haben Ihre Gewalt-Studie vor vier Jahren veröffentlicht. Seitdem scheint alles nur noch schlimmer geworden zu sein: Bürgerkrieg in der Ukraine, der Terror des "Islamischen Staats", Millionen Menschen auf der Flucht. Immer noch ­sicher, dass Sie sich nicht verrechnet haben?

Wenn man die Welt in den Nachrichten sieht, erscheint es doch immer so, als würde alles nur noch schlimmer. Aber das ist eine Illusion! Sie haben recht, Putin und die Islamisten haben Fortschritte von ungefähr zwölf Jahren ausradiert: Die Todesrate durch Bürgerkriege ist wieder leicht angestiegen. Aber sie ist nicht in Ansätzen so hoch wie in den 1960ern, 1970ern, 1980ern oder den frühen 1990ern, von den 1940ern ganz zu schweigen. Und alle anderen Gewaltraten - beispielsweise Mord, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch, Todesstrafe - fallen weiter.

Der ewige Friede kommt also doch?

Gewalt wird niemals ganz aus der Welt verschwinden. Auf unserem Planeten leben sieben Milliarden Menschen. Es wird immer junge Kerle geben, die in einer Kneipe durchdrehen oder eine "Volksfront zur Befreiung von Was-auch-immer" gründen, um ihrem Lebensfrust Ausdruck zu verleihen. Aber die Gewalt kann auch in Zukunft weiter zurückgehen.

Und wir können uns zurücklehnen, die Weltgeschichte erledigt den Job?

Diese Frage ist albern! Aber ich höre sie nicht zum ersten Mal. Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde: "Ich prognostiziere, Ihre Zähne werden heute Nacht geputzt sein, wenn Sie ins Bett gehen." Was würden Sie antworten? "Toll! Das heißt, ich muss meine Zähne heute nicht putzen"? Die Welt ist friedlicher geworden, weil sich Menschen in der Vergangenheit erfolgreich dafür eingesetzt haben. Und wir können die Welt noch friedlicher machen.

Irgendwelche Tipps, wie das gehen könnte?

Aktivisten sollten aufhören, ständig zu jammern, dass die jüngste Krise die allerschlimmste sei, dass es uns so schlecht gehe wie nie und dass die Welt sowieso dem Untergang geweiht sei! Damit vermittelt man anderen Leuten doch nur das Gefühl, dass es nichts bringt, sich einzusetzen - dass Jahrzehnte des Aktivismus reine Zeitverschwendung waren, dass Afrika und der Nahe Osten eben Dreckslöcher sind, dass sich die Menschen dort bis in alle Ewigkeit abschlachten werden, dass es für unseren Planeten keine Hoffnung gibt und wir uns deswegen genauso gut zurücklehnen und unser Leben genießen können, solange das noch möglich ist. Aktivistinnen und Aktivisten sollten ­anfangen, mit Logik und Fakten zu argumentieren - und nicht nur Moral predigen. Man muss nicht sein Gehirn abschalten, um Aktivist zu sein.

Steven Pinker, 61, zählt zu den maßgeblichen Intellektuellen der USA. Seit 2003 ist er Professor für Psychologie an der Universität Harvard, davor lehrte er zwanzig Jahre lang am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge. Seine Forschungen zur Evolution von Sprache und Denken machten ihn Anfang der neunziger Jahre welt­berühmt. Steven Pinker ist Autor mehrerer Bestseller und schreibt regelmäßig für die "New York Times" und "Time". Sein Werk "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit" ist 2011 im S. Fischer Verlag erschienen.

Das Interview ist zuerst im „Amnesty Journal“ Dezember 2015 erschienen

Foto: B. Cannarsa/Opale/Leemage/laif