Die gesellschaftlichen Imaginationen zum Thema „Arbeit“ sind immer noch dominiert von den Rollenmodellen und Erfahrun­ gen der großen Industrie: fixes, geordnetes Anwendungswissen, „männliche“ Disziplin, Einordnung in den zugewiesenen Platz innerhalb der Kette der Arbeitsteilung, steter Aufstieg durch Ak­ kumulation von Erfahrung, dazu die Faszination der großen Zahl, der einheitlichen Standards, der Massenware.

All das gibt es nach wie vor. Aber es liegt auch schon weit hinter uns, selbst in der Industrie tut sich hier sehr viel. Kehrt man den Blick davon ab, kommen beim Thema Arbeit noch ganz andere Perspektiven hinzu: die Entwicklung zur Dienstleis­ tungsgesellschaft, die fortschreitende globale Arbeitsteilung und gerade in Europa der demographische Wandel.

Die Welt der Arbeit ist heute von einer ungeheuren Vielfalt, ja Disparität gekennzeichnet. Für die Einzelnen ist Orientierung und Selbstfindung hier eine Aufgabe für sich. Was wird und soll als Arbeit anerkannt sein und was nicht? Was kann sie zur Selbst­ verwirklichung beitragen, welchen Stellenwert soll sie im Leben haben? Kann eine Gesellschaft, die sich über die Notwendigkei­ ten der Arbeit definiert, überhaupt frei sein? Wenn alles im Fluss ist, werden solche metaphysischen Fragen alltagstauglich.

Klar ist, im Kosmos der Arbeit ist Bildung zur Schicksals­ frage geworden. Das hat zum einen mit der zunehmenden Wis­

sensgetriebenheit der Wirtschaft zu tun. Zum anderen werden in den Dienstleistungssektoren sogenannte weiche Faktoren im­ mer wichtiger: Soziale und emotionale Kompetenzen laufen den zweckrationalen den Rang ab. Wer weniger Wissen und Fach­ kenntnisse aktivieren und immer wieder neu entwickeln kann, hat es ungleich schwerer, Arbeit zu finden und zu behalten. Das Bildungswesen in Deutschland ist hier noch nicht auf der Höhe der Zeit. Dass fast ein Viertel der Jungen eines Jahrgangs schon zu Beginn ihres Arbeitslebens fast chancenlos sind, ist nur das dramatischste Anzeichen dafür.

Die Ränder des Arbeitsmarktes werden prekär, und wer lan­ ge ohne Arbeit bleibt, fällt immer noch schnell und dauerhaft aus der sozialen Bahn. Dagegen gibt es Ideen wie bedingungs­ loses Grundeinkommen oder Bürgerarbeit, um die Brüche zu überwinden.

Zur Disparität gehören auch Gewinner: Die Eintrittshürden in eine erfolgreiche unternehmerische Existenzform sind heute viel geringer, schon Schüler können mithilfe des Internets aus ihren Ideen ein erfolgreiches Unternehmen machen.

Deutschland ist im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg mit der sozialen Marktwirtschaft sehr gut gefahren. Das Modell des sogenannten rheinischen Kapitalismus mit geregeltem Interes­ sensausgleich zwischen Kapital und Arbeit hat Erfolgsgeschichte geschrieben. Wie sich das fortschreiben lässt, ist eine gute Frage. Sie zu beantworten, wird eine Menge Arbeit kosten, sie aber auch wert sein.