Dass man nachts die Lawinen knirschen und krachen hört, ist nicht ungewöhnlich, aber dieses Mal musste etwas passiert sein. In den frühen Morgenstunden schlägt eine Druckwelle gegen die Zelte der Bergsteiger, stärker als sonst. Gegen sieben hört man die Rotoren der Hubschrauber über dem Camp. Aufgeregt werden Funksprüche abgesetzt. Man versteht nicht viel.
Das Basislager befindet sich auf 5.365 Metern über dem Meeresspiegel. Nachts wird es minus 15 Grad und kälter, man uriniert in einen Becher, um das Zelt nicht verlassen zu müssen. Morgens rieselt Raureif von der Zeltdecke. Hier oben gibt es keine Straßen, der letzte Flughafen vor dem Gipfel liegt auf 2.846 Metern Höhe, am Hang.
Auch in diesem Frühling harren hier mehr als 300 Bergsteiger aus, die noch weiter hinaufwollen. So hoch, wie es auf dieser Erde nicht höher geht.
Der Österreicher Andy Holzer, von Geburt an blind, ist in diesem Jahr einer von ihnen. Schon als Jugendlicher, hatte Holzer in einem Interview vor seiner Abreise nach Nepal gesagt, träumte er vom Mount Everest. „Ich habe mir monatelang Gedanken darüber gemacht, wie ich schwierige Situationen jeweils meistern kann“, sagte Holzer vor der Abreise. „Jetzt habe ich den Erfahrungsschatz, habe das logistische Wissen, und auch finanziell passt es. Die Chance, die ich spüre, will ich nutzen.“
Er wäre der zweite Blinde, der es hoch zum Mount Everest schafft. Die Route hat er fest im Kopf. Dann passiert die Katastrophe.
Die Tour führt vom Basislager über vier weitere Zeltstädte zum Gipfel, 8.848 Meter über dem Meeresspiegel. Den Weg zwischen den Lagern präparieren Sherpas, sie spannen Seile zwischen den Felsen, in die sich die Bergsteiger später einhaken, sie legen Leitern über Eisschluchten. Die Vorhut für die Touristen aus aller Welt.
Der gefährlichste Job der Reisebranche
Und sie haben einen der gefährlichsten Jobs der Reisebranche überhaupt.
Am 18. April dieses Jahres sterben 16 von ihnen in den Morgenstunden unter einer Lawine, als sie die Strecke zwischen dem Basislager und dem ersten Zwischenstopp weiter oben passierbar machen wollen – es ist eines der bislang schlimmsten Unglücke am Everest.
Am Mittag kommen die Helikopter ins Basiscamp zurück, am Tau baumeln leblose Körper. Aus den Leichensäcken, die sie in der Zeltstadt ablegen, schauen Arme, Beine, Köpfe. „Von Stunde zu Stunde wurde die Katastrophe deutlicher“, mailt Andy Holzer später nach Hause.
Wie es weitergeht, ist unklar. Auch unter den Sherpas. Soll die Saison abgeblasen werden? Soll es Aufstiege geben? Einige herpas blockieren den Weg Richtung Gipfel und streiken. „Es ist so unendlich schwierig, jetzt einen richtigen Weg zu erkennen“, schreibt Holzer.
Am Donnerstag nach dem Lawinenunglück fliegt Nepals Tourismusminister hinauf ins Basislager. Die Linie der Regierung ist klar: Der Bergtourismus soll weitergehen. Er will die Sherpas umstimmen. Vergebens.
Der Mount Everest ist ein gefährliches Ausflugsziel. Mehrere Hundert Menschen starben seit 1921, die meisten kamen in der sogenannten Todeszone ums Leben, oberhalb von 8.000 Metern, zwischen dem vierten Lager und dem Gipfel. Der Luftdruck ist dort so gering, dass kaum noch Sauerstoff in die Lungen gelangt.
Das Atmen fällt schwer, das Blut wird dick, man bewegt sich langsamer, und wenn es besonders schlimm ist, beginnt man zu halluzinieren. Am 19. Mai 2012, einem Samstag, um 11.05 Uhr erreichte der deutsche Arzt Eberhard Schaaf mit zwei Sherpas den Gipfel, er setzte die Sauerstoffmaske ab, machte Fotos. Eine knappe Stunde blieb er oben in der dünnen Luft. Viel zu lang. Beim Abstieg verlor er das Bewusstsein, die Sherpas blieben bei ihm, wollten ihn retten, dann mussten sie ihn in der Kälte zurücklassen. Neben Schaaf starben allein an diesem Wochenende fünf weitere Touristen am Everest.
Riskant ist der Trip zum Gipfel für jene, die ihre Kräfte überschätzen – vor allem aber für die einheimischen Sherpas. Seit 1922 verloren laut Himalaya-Database am Everest mindestens zehn Amerikaner ihr Leben, 17 Briten, 18 Japaner, aber mehr als 70 Angehörige des Sherpa-Volkes, das in den Höhen Nepals lebt. Schon seit den ersten Versuchen, den Mount Everest zu besteigen, wurden die Sherpas als Helfer eingesetzt. Sie sichern den Weg mit Seilen, sie tragen Ausrüstung, Sauerstoffflaschen, Zelte und Proviant den Berg hinauf. Es gibt Studien, die zeigen, dass die Angehörigen des Sherpa-Volkes genetisch besonders gut an die Höhen angepasst sind.
Aber sie verbringen mehr Zeit oben in der Gefahrenzone als jeder Tourist. An einer Strecke, die Bergsteiger später in ein paar Minuten passieren, arbeiten die Sherpas Wochen. Dadurch ist das Risiko, von einer Lawine getroffen zu werden, für sie größer. Sehr viel größer.
Statistisch gesehen ist ihre Arbeit gefährlicher als die eines amerikanischen Soldaten, der in den Irakkrieg zog. Der Tod ist Routine. „Wir müssen versuchen, das Risiko zu minimieren“, meint der 34-jährige Norbu Sherpa, nachdem er zwei Freunde bei dem Lawinenunglück am 18. April verloren hat.
Der Streik, der dieses Jahr im Basislager am Everest ausbrach, ist nicht der erste. Seit es Himalaya-Expeditionen gibt, kämpfen die Sherpas für bessere Arbeitsbedingungen. 1930 zogen sie gegen eine deutsche Expedition vor Gericht, weil sie sich unterbezahlt fühlten. 1933 streikten sie im Basislager wegen des schlechten Essens, das man ihnen gab. 1963 erstritten sie, dass sie genauso gute Schlafsäcke bekommen wie ihre Auftraggeber.
Nur eines stand in all den Jahren nie ernsthaft zur Debatte: den höchsten Gipfel der Welt für Ausflügler zu sperren. Kein Wunder. Der Everest hat sich zu einem der wichtigsten Touristenmagneten Nepals entwickelt.
Dabei hat es lange gedauert, bis es überhaupt ein Mensch hinaufschaffte. Die ersten Expeditionen starteten schon in den 20er-Jahren, aber erst 1953 stand der Neuseeländer Edmund Hillary als Erster oben – an seiner Seite der Sherpa Tenzing Norgay.
Seither gibt es einen regelrechten Ansturm – mit den waghalsigsten Rekordversuchen: Reinhold Messner war der Erste, der den Everest ohne Sauerstoffflasche bestieg, der US-Amerikaner Erik Weihenmayer der erste Blinde, der Neuseeländer Mark Inglis der erste doppelt beinamputierte Bergsteiger auf dem Everest. Ein 13-jähriger Amerikaner war 2010 der jüngste, ein 80-jähriger Japaner 2013 der älteste Mensch auf dem höchsten Gipfel der Erde. Das erste Telefonat in fast 9.000 Metern Höhe führte 2007 ein Brite.
Der Run auf den Mount Everest
Heute werden die Touristen regelrecht durchgeschleust. Über 4.000 Menschen haben den Everest bestiegen, der weitaus größte Teil von ihnen kam in den vergangenen Jahren. Mitunter bilden sich oben, kurz vor dem Gipfel, gefährliche Staus. Bergsteiger an den Befestigungsseilen kommen nicht voran – und müssen länger als nötig in der dünnen Höhenluft ausharren. Allein im Frühjahr 2013 machen sich 657 Menschen auf den Weg zum Gipfel, 119 von Tibet im Norden aus, 538 starten auf der Südroute in Nepal, Hunderte Bergsteiger aus aller Welt und unzählige Sherpas.
Die Regierung in Nepal verdient gut am gefährlichen Freizeitpark im Himalaya. 10.000 Dollar Besteigungsgebühr werden von jedem Touristen kassiert, der den Mount Everest hinaufwill. Der Everest und die anderen Himalaya-Gipfel spülen jährlich einige Millionen Dollar in die Staatskasse. Und auch die Sherpas sind Topverdiener in dem armen Land: In den zwei Monaten einer Saison verdient ein Sherpa bis zu 6.000 Dollar, es locken Prämien der Reiseveranstalter, wenn sie Touristen bis an den Gipfel führen. Das reicht, um ganze Familien zu ernähren.
Nur passieren darf auf dem Weg nach oben nichts. Und wenn doch?
Dann ist es oft eine ganze Familie, die das Unglück trifft. Und für die niemand mehr etwas tut.
Chhewang Nima war 43 und kurz davor, den Rekord zu brechen: 19 Mal stand er bereits auf dem Mount Everest, noch eine Saison, vielleicht zwei, dann wäre er so oft auf dem Gipfel gewesen wie kein anderer Mensch vor ihm. Ebenso wie das Geld lockte der Wunsch nach Achtung und Anerkennung.
Im Oktober 2010 war Chhewang Nima mit der amerikanischen Bergsteigerin Melissa Arnot, 26 Jahre, am Baruntse unterwegs, einem 7.000er, der als Vorbereitung für den Mount Everest gilt. Als Chhewang Nima in der Nähe des Gipfels die Seile für den Aufstieg anbrachte, löste er eine Lawine aus, die ihn unter sich begrub.
Als die Bergsteigerin Arnot in das Dorf fuhr, aus dem Chhewang Nima stammte, um seiner Witwe ihr Beileid auszudrücken, schickte man sie wieder fort.
Beerdigungen nach buddhistischem Brauch sind teuer. Arnots Sponsor spendete Geld, um der Familie zu helfen. Sie versprach, für den Verdienstausfall aufzukommen, denn Chhewang versorgte nicht nur seine eigene Familie, sondern auch die seiner acht Brüder und Schwestern. „Meine Leidenschaft“, sagt Arnot, „hat eine Industrie geschaffen, die Menschen sterben lässt.“
Seit 2002 sind die Reiseveranstalter verpflichtet, eine Versicherung für die einheimischen Gebirgsträger abzuschließen. Aber das Geld, das die Versicherungen nach einem Unfall auszahlen, reicht kaum. Die Folge: Im Ernstfall müssen Bergsteiger und Agenturen sogar über eine Rettung verhandeln.
Vor zwei Jahren wurde der Sherpa Lakpa Nuru von einem herabfallenden Fels getroffen. Blutend und halb bewusstlos lag er im Lager 2. Die Versicherung wollte damals 4.000 Dollar zahlen, ein Rettungsflug aber, mit dem Lakpa Nuru aus dem Lager in 6.400 Metern Höhe geholt werden konnte, kostete mehr als das Dreifache.
Wäre die Todesrate amerikanischer Skilehrer so hoch wie die der Sherpas am Mount Everest, schreibt der Journalist Grayson Schaffer, dann wäre der ganze Betrieb schon längst verschwunden.
Nach dem schweren Lawinenunglück in diesem April warteten der blinde Bergsteiger Andy Holzer und sein Team im Basislager lange auf eine Nachricht, wie es weitergeht. Dann war klar: Es finden keine Expeditionen mehr statt. „Ich glaube einfach, der Everest will dieses Jahr an der Südseite seine Ruhe haben, und das ist zu akzeptieren“, schrieb Holzer nach Hause.
Mit dem Sherpa, der ihn zum Gipfel begleiten sollte, hat Holzer eine Abmachung getroffen: „Wir haben uns im Falle einer Rückkehr zum Everest schon als Team verabredet.“
Die Regierung in Nepal teilt derweil mit, dass die für diese Saison ausgestellten Gipfelgenehmigungen verlängert werden. Wer innerhalb der nächsten fünf Jahre zum Everest zurückkehrt, spart eine erneute Gebühr.