„Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein.“ Der erste Tagebucheintrag von Anne Frank, datiert vom 12. Juni 1942. An diesem Tag wurde Anne 13 Jahre alt und bekam von ihrem geliebten Vater Otto ein Poesiealbum geschenkt, das sie als Tagebuch nutzte, in Ermangelung einer von ihr schmerzlich vermissten allerbesten Freundin, der man einfach alles erzählen kann.
Was Anne Frank dann bis zum 1. August 1944 – dem Tag des letzten Tagebucheintrags – schrieb, gehört heute weltweit zum literarischen Kanon über den Holocaust. Dabei verfasste Anne nicht nur Tagebucheinträge, denen sie oft eine Briefform gab, sondern schrieb auch Erlebnisse aus ihrem Versteck oder Ausgedachtes nieder, sie führte zudem ein „Schöne-Sätze-Buch“ mit Lieblingspassagen aus anderen Werken und beschäftigte sich im „Ägyptenbuch“ mit der dortigen alten Mythologie. Eine höchst talentierte Autorin also, deren unbekümmerte Erzählweise auch heute noch überhaupt nicht angestaubt wirkt und die einen grundehrlichen Einblick gibt in das Innenleben eines jungen Mädchens im Angesicht des Nazi-Horrors. Anne Frank: eine einzigartige Zeitzeugin des dunkelsten Kapitels des 20. Jahrhunderts.
Anne wird vom Sockel der Verehrung geholt - ein großes Verdienst
Das „Tagebuch der Anne Frank“ wurde schon öfter verfilmt, die bekannteste Adaption ist wohl die mit drei Oscars ausgezeichnete US-Version von 1959. Nun also der erste deutsche Kinofilm, und die Produzenten M. Walid Nakschbandi und Michael Souvignier holten sich versierte Mitarbeiter ins Boot: Hans Steinbichler hat als Regisseur von wichtigen Filmen wie „Winterreise“ oder „Das Blaue vom Himmel“ seine sensible Erzählweise bewiesen. Und als Drehbuchautor fungierte der im Sujet des Widerstands gegen den Nationalsozialismus erfahrene Fred Breinersdorfer („Sophie Scholl“, „Elser“), drei Jahre arbeitete er an der Adaption. Das größte Verdienst der beiden: Sie holen Anne vom Sockel der Verehrung herunter und schildern sie als ganz normalen Teenager mit literarischen Ambitionen.
Und so erleben wir die lebenslustige, mitunter auch skeptische oder bockige Anne (sensationell: die 16-jährige Lea van Acken, bekannt aus „Kreuzweg“), wie sie unter dem gelben Stern leidet, den sie in der Öffentlichkeit im besetzten Amsterdam tragen muss. Wie sie und ihre Freundinnen beim Baden von Jungnazis angepöbelt werden. Wie ihr über alles geliebter Vater Otto (adäquat zurückhaltend: Ulrich Noethen) viel zu lange hofft, es werde alles nicht so schlimm kommen hier in Holland. Und wie Anne, Otto, Annes Mutter Edith (intensiv: Martina Gedeck) und Annes drei Jahre ältere Schwester Margot (Stella Kunkat) schließlich am 6. Juli 1942, als das Leben für Juden auch in Amsterdam lebensgefährlich geworden ist, von mutigen Freunden und Mitarbeitern in einer abgeschotteten Wohnung im Hinterhaus von Franks Firmensitz in der Straße Prinsengracht 263 versteckt werden.
Zur Familie stößt noch das Ehepaar van Daan mit dem Sohn Peter und der Zahnarzt Albert Dussel. So viele Personen in einer so engen Wohnung ohne Aussicht auf einen Rückzugsort oder frische Luft, dazu die allgegenwärtige Angst, entdeckt oder verraten zu werden – Regisseur Steinbichler fängt die klaustrophobische Atmosphäre der Hinterhauswohnung gekonnt ein. Und Streitereien bleiben da freilich auch nicht aus, bevorzugt mit der etwas arrogant auftretenden Frau van Daan. Anne vertieft sich regelmäßig ins Schreiben, bekommt aber auch Probleme mit ihrer Mutter, von der sie sich unverstanden fühlt. Und sie fängt zum Entsetzen aller eine Liaison mit dem deutlich älteren Peter an.
Wunderbar gespielt, aber deutlich zu lang
Steinbichler und sein Team bemühen sich in Ausstattung, Kostümen und Farbgebung um eine möglichst hohe Authentizität: die zusammengesammelten Möbel, die schlichte Kleidung, die dem Zeitkolorit entsprechenden Haarschnitte. Die Inszenierung ist zurückgenommen, nur selten setzt die Regie auf thrillerhafte Spannungsbögen, etwa wenn Arbeiter merkwürdige Geräusche über sich hören und skeptisch werden. Mit diesen aber wird dem Zuschauer hautnah die Schreckensherrschaft der Nazis vorgeführt, deren Überwachungs- und Ausgrenzungspolitik bis in die letzte Ritze vordringt und unter der Juden zunehmend nicht als Menschen angesehen werden.
Das sich zum größten Teil in der Wohnung abspielende Geschehen ist mit viel Gespür für die einzelnen Figuren erzählt und wunderbar gespielt, aber mit 127 Minuten Filmlänge deutlich zu lang geraten. Dennoch: Gerade für Schulklassen dürfte diese neue Version des Stoffes ein Muss werden. Damit Anne Frank und ihr Schicksal nie in Vergessenheit geraten.
„ … wenn keine anderen Menschen auf der Welt leben würden“ – so lauten die letzten Worte im Tagebuch der Anne Frank, datiert vom 1. August 1944. Anne Frank starb Ende Februar/Anfang März 1945 im KZ Bergen-Belsen.
„Das Tagebuch der Anne Frank“, D 2016; Regie: Hans Steinbichler, Drehbuch: Fred Breinersdorfer, mit Lea van Acken, Ulrich Noethen, Martina Gedeck; 127 Minuten; Kinostart: 3. März 2016 bei Universal