Tom Bieling ist zwar Designer, aber wenn er an neuen Entwürfen arbeitet, geht es nicht in erster Linie um Ästhetik. Sein Feld ist das Social Design, das das Miteinander von Menschen in den Mittelpunkt stellt. Bieling forscht und promoviert am Design Research Lab der Berliner Universität der Künste. Darüber spricht er am 28. Mai in Berlin auf der TINCON, einem Festival für digitale Jugendkultur – und vorab auch hier: ein Interview über Design, das Minderheiten vergisst, einen Kommunikationshandschuh für taubblinde Menschen und worauf es bei der Entwicklung von sozialem Design ankommt.
fluter.de: Mit Design verbinde ich eher teure Mode oder extravagante Möbel. Worum geht es beim Social Design?
Tom Bieling: Beim Social Design befassen wir uns mit der Frage, wie Gestaltung sich in gesellschaftliche Prozesse einmischen kann. Uns interessiert zum Beispiel, welche Technologien der Mensch wirklich brauchen kann, um am sozialen und politischen Leben teilzuhaben. So wie uns das Handy dabei hilft, miteinander zu sprechen. Technisch ist heute vieles möglich, da kommen die Menschen manchmal kaum hinterher. Als Designer sehen wir uns ein bisschen als Vermittler zwischen Endnutzer und dem technischen Entwickler. Denn wir schauen nicht so sehr darauf, was technisch möglich ist, sondern eher, wie der Mensch tickt.
Was ist an herkömmlichem Design denn unsozial?
Designer, Hersteller und Marketingmenschen haben ein nachvollziehbares Interesse daran, mit ihrem Produkt möglichst viele Leute zu erreichen. Das Problem ist aber, dass man sich dadurch immer sehr stark an Mehrheiten orientiert. Und die Bedürfnisse der Menschen, die eine Minderheit darstellen, werden überhaupt nicht mehr berücksichtigt. Es ist ja wunderbar, dass ich den Bahnsteig meiner S-Bahn-Station über eine Treppe erreichen kann und nicht über die Außenfassade klettern muss. Einem Rollstuhlfahrer bringt das aber immer noch nichts. Er muss eine Haltestelle weiter fahren, um zu einem Fahrstuhl zu gelangen. Die Frage, ob ein Mensch laufen kann oder nicht, wird in dem Moment egal, in dem die Welt barrierefrei gestaltet wird.
In einem deiner Projekte hast du dich darauf spezialisiert, taubblinden Menschen das Kommunizieren leichter zu machen. Wie unterhalten sich Menschen, die weder sehen noch hören können?
Taubblinde Menschen kommunizieren unter anderem mit Hilfe des Lorm-Alphabets, einer Sprache, die über Berührung funktioniert. Wenn ich meinem Gesprächspartner auf die Daumenspitze tippe, dann ist das der Buchstabe A, wenn ich einen Kreis in die Handfläche male, ist das ein S. Eigentlich klappt das ganz gut, aber es gibt ein gravierendes Problem: Die Sprache funktioniert nicht über die Distanz. Man kann ja nicht einfach telefonieren oder SMS schreiben.
Du hast mit deinem Team einen Handschuh entwickelt, der dieses Problem lösen soll. Wie genau funktioniert der?
Der Handschuh ist ein tragbares Kommunikationsgerät, das man sich als Taubblinder überziehen kann. Darin ist eine sensorische Fläche eingearbeitet, die erkennt, wo man den Handschuh berührt. Der Taubblinde lormt sich also eine Nachricht in die eigene Hand hinein, die dann digitalisiert, übersetzt und verschickt wird. Sie landet als SMS auf dem Handy der Freundin, als Mail auf dem Computer der Eltern, oder sie geht als Post auf Twitter oder Facebook raus. Umgekehrt kann man mit Hilfe des Handschuhs auch E-Mails, SMS oder Sprachnachrichten empfangen. Kleine Vibrationsmotoren sorgen dafür, dass der Taubblinde die Nachricht erfühlen kann.
Welches Feedback habt ihr von Taubblinden auf den Handschuh bekommen?
Viel und erfreulich positives Feedback. Wir setzen uns eigentlich permanent mit taubblinden Menschen und ihren Familien, Freunden oder Betreuern zusammen, um das Ding gemeinsam weiterzuentwickeln. Inzwischen sind wir bei der dritten Prototypen-Version angelangt. Die Rückmeldung der taubblinden Experten ist dabei sehr wichtig. Zum Beispiel lagen die Motoren, mit denen man eingehende Informationen erspürt, zu Beginn auf der Handrückseite. Tatsächlich kommuniziert man beim Lormen aber nur über die Handinnenfläche. Mittlerweile sind wir technisch so weit, dass wir das ändern konnten.
Richtet sich Social Design immer an Menschen, die in irgendeiner Weise eingeschränkt sind?
Das würde ich so nicht sagen, denn soziale Interaktion bezieht sich ja auf alle Menschen. Aber in der Tat geht es in vielen unserer Projekte um unterrepräsentierte, marginalisierte Gruppen. Da geht es dann um Themen wie Alter, Armut, Migration oder interkulturellen Dialog. Wichtig ist auf jeden Fall, die Menschen in den Gestaltungsprozess miteinzubeziehen. Man hört ja oft den Begriff vom „exklusiven Design“. Werbetexter wollen damit meist vermitteln, dass es sich um was ganz Tolles, Extravagantes handelt. Aber wenn man sich mal die Bedeutung des Wortes bewusst macht: exklusiv, das schließt letztlich immer Menschen aus. Ein Großteil der Technologien, die es gibt, richtet sich zum Beispiel an Menschen, die sehen und hören können – von der Lautsprecherdurchsage am Flughafen über die Werbetafel an der Bushaltestelle bis hin zum Mobiltelefon. Wer diese Sinne nicht nutzen kann, wird ausgeschlossen.
Was ist dein Ansatz?
Das Gegenteil, nämlich inklusiv zu gestalten. Dabei stelle ich mir zum Beispiel die Frage, wie ein Gegenstand, ein Service oder ein Prozess gestaltet sein müsste, wenn wir alle nichts sehen könnten. Der Experte bin dann nicht mehr ich, sondern blinde Menschen, mit denen ich eng zusammenarbeite. Wenn man so vorgeht, hat das nicht nur positive Auswirkungen auf bisher ausgeschlossene Minderheiten, sondern ist meistens auch besser für die Allgemeinheit.
Kannst du ein Beispiel nennen?
Ich glaube, unser Handschuh für Taubblinde ist ein ganz plakatives Beispiel. Man kann damit auch eine Reihe anderer Dinge anstellen, die mit Taubblindheit gar nichts zu tun haben müssen. Beispielsweise können ihn Leute verwenden, die zwar sehen und hören, aber die in sehr lauten oder leisen Umgebungen arbeiten müssen. Sie können damit Informationen übertragen, ohne sprechen, lesen oder schreiben zu müssen. Die müssen dann freilich nicht lormen, aber können mit Hilfe der Sensorik andere Funktionen ansteuern. Wir können uns vorstellen, dass der Handschuh auf diese Weise auch für den Gaming- oder Sportbereich interessant sein könnte.
Haben Produkte, die sich vor allem an Randgruppen richten, überhaupt eine Chance, irgendwann auf den Markt zu kommen? Diesen Menschen fehlt doch oft eine mächtige Lobby.
Je kleiner eine Gruppe ist, desto kleiner ist auch ihre Lobby. Bei den Taubblinden merke ich das ganz massiv. In Deutschland gibt es 3.000 bis 6.000 Taubblinde, und abgesehen von ein paar privaten Initiativen und staatlich geförderten Institutionen interessiert sich wirklich niemand für die. Weder die Politik noch die Industrie. Aber da kommt wieder der Perspektivwechsel ins Spiel. Wenn klar wird, dass ich diese Technologie für Taubblinde auch in ganz andere Einsatzgebiete übertragen kann, wird die vermeintliche Nischengruppe plötzlich zum Innovationstreiber. Die Schreibmaschine wurde zum Beispiel ursprünglich als Kommunikationshilfe für Blinde entwickelt, bevor sie auch bei anderen Nutzergruppen großen Erfolg hatte. Umgekehrt wurde die sogenannte Nachtschrift, auf der die Brailleschrift aufbaut, ursprünglich als System zur geheimen Nachrichtenübermittlung für die Truppen Napoleons entwickelt. Heute dient sie vielen der Millionen blinden Menschen weltweit als Kommunikationsgrundlage.
Du hältst regelmäßig Vorträge auf Konferenzen wie jetzt auf der TINCON. Bekommst du aus dem Publikum auch Ideen für neue Projekte?
Ja, das kommt vor. Ich erhalte oft Feedback und Ideen und finde das toll, weil ich dabei selbst viel lerne. Auf die TINCON bin ich sehr gespannt. Auf dem Podium treffe ich unter anderem auf einen querschnittsgelähmten Jungen und ein Mädchen, das ohne Zunge geboren wurde. Für beide hat Technik einen hohen Stellenwert im Alltagsleben. Zum Beispiel, wenn es darum geht, zu kommunizieren oder sich fortzubewegen.
Social Design will die Welt ein bisschen besser machen. Klappt das denn auch immer?
Wenn man an neuen Technologien arbeitet, kann man über die Folgen immer nur spekulieren. Neue Lösungen schaffen immer auch neue Probleme. Das zeigt sich zum Beispiel bei Projekten in der sogenannten Dritten Welt. Schickt man ihnen Fertighäuser oder Secondhand-Klamotten, macht man die Situation vielleicht noch schlimmer, weil die Menschen vor Ort keine eigene Industrie aufbauen können. Viele sogenannte Social-Design-Projekte entstehen aus einem naiven, unreflektierten Zusammenhang. Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir als Designer nicht so viel vorschlagen und vorgeben, sondern vielmehr versuchen zu verstehen.
Fotos: Norman Konrad; privat