Die Formulierung „ein Spiel lesen“ gehört heute zum Standardvokabular jedes Sportreporters. Sie bezeichnet die Fähigkeit eines Spielers oder Trainers, die Strategie und die Spielzüge des Gegners zu antizipieren und die eigene Taktik blitzschnell an die neuen Bedingungen anzupassen. In „Al Doilea Joc – The Second Game“ von Corneliu Porumboiu bekommt dieser Begriff noch eine andere, viel grundsätzlichere Bedeutung.
Porumboiu zählt zu den wichtigsten Regisseuren des neuen rumänischen Kinos. Seine Filme „12:08 Jenseits von Bukarest“ (2006) und „Police, adjective“ (2009) prägen lange, distanzierte Einstellungen, in denen wenig gesprochen wird. „Al Doilea Joc“ spitzt Porumboius erzählerische Mittel noch einmal deutlich zu. Zu sehen ist lediglich die Fernsehaufzeichnung eines Fußballspiels zwischen Dinamo Bukarest und Steaua Bukarest aus dem Jahr 1988. Die Begegnung kommentieren aus dem Off der Regisseur und sein Vater Adrian, der das Spiel damals als Schiedsrichter leitete.
In die Annalen des rumänischen Fußballs ist die Partie nicht eingegangen. Kurz vor Spielbeginn setzte ein starker Schneefall ein. Trotz der widrigen Umstände entwickelte sich das Spiel zu einem hart umkämpften Schlagabtausch. Die junge Dinamo-Mannschaft trotzte dem technisch überlegenen Team von Steaua und unterband den Spielaufbau des Gegners schon im Mittelfeld. Zu gefährlichen Torchancen kam es aufgrund der kompakten Spielweise auf keiner Seite. Die Partie endete 0:0.
Interessant ist das Spiel nur aus historischer Sicht, denn die Fußballsaison 1988/89 sollte die letzte Saison im sozialistischen Rumänien sein. Im Dezember 1989 ging die Bevölkerung gegen das brutale Regime von Staatspräsident Nicolae Ceauşescu auf die Straße. Am 25. Dezember 1989 wurde Ceauşescu von einem Militärtribunal zum Tode verurteilt. Politisch brisant war die Begegnung aber noch aus einem anderen Grund. Partien zwischen Dinamo und Steaua Bukarest hatten im sozialistischen Rumänien nicht einfach den Status eines Sportereignisses. Dinamo war der Verein der Geheimpolizei Securitate, Steaua unterstand der Armee. Die Stadtderbys bedeuteten also ein internes politisches Kräftemessen. Dabei immer zwischen den Fronten: der Schiedsrichter.
Satellitenteams und Drohanrufe
Adrian Porumboiu hat in seiner Karriere viele Dinamo-Steaua-Partien gepfiffen und gibt in „Al Doilea Joc“ sein Insiderwissen preis. Wie zum Beispiel die großen Vereine in der Liga regelmäßig gegen sogenannte „Satellitenteams“ antraten, die lediglich als Punktelieferanten für die Topteams dienten. Oder dass ihn einmal Funktionäre beider Vereine aufsuchten, um ihm eine bestimmte Auslegung der Regeln nahezulegen – und er sie dafür beim Verband anschwärzte. Corneliu wiederum schreibt in einem Texteinschub zu Beginn des Films, dass er als 13-Jähriger einen Drohanruf für seinen Vater entgegennahm.
Vor diesem politischen Hintergrund mutet das Spiel im Dezember 1988 fast harmlos an, „einfach ein weiteres Dinamo-Steaua-Spiel im Schnee“, wie Adrian Porumboiu lapidar anmerkt. Dennoch entfaltet der Film im Laufe des Gesprächs eine faszinierende Schönheit: durch den grauen Schnee, der unaufhörlich vom Himmel fällt und mit dem körnigen Videobild eine nostalgisch-verrauschte Atmosphäre schafft. Durch die erhellenden Beschreibungen des Vaters, der etwa erklärt, warum die Kameraregie bei kleinen Rangeleien auf dem Feld schnell ins Publikum schwenkte (weil Unsportlichkeiten nicht zum sozialistischen Selbstverständnis passten). Und schließlich durch das Spiel selbst, das eine wuchtige Dynamik entwickelt und verständlich macht, warum die späten 1980er-Jahre heute als Beginn der goldenen Ära des rumänischen Fußballs gelten.
Das Gespräch zwischen Vater und Sohn, in dem die unterschiedlichen Charaktere der beiden immer wieder für komische Momente sorgen, streift das Private und das Politische, ohne dass sich eine explizit politische Lesart aufdrängt. Stattdessen betreiben die beiden eine Form von Medienarchäologie. Sie lesen die Zeichen und das Spiel und entblättern damit Schicht um Schicht die Bedeutungsebenen des Sports, seine gesellschaftlichen und politischen Funktionen. Und an denen hat sich bis heute, 25 Jahre nach dem Ende des Kommunismus in Rumänien, im Grunde wenig geändert.