Flach geht das Wasser des Sees in die grauen Wolken über. Alles ist ruhig, ein paar Enten dümpeln am Ufer, die Zweige haben ihr Laub verloren und stehen kahl am Kieselweg. Hier dürfen die Mädchen hin, wenn ihr BMI über 15 ist, wenn ihr Körper sie wieder trägt, das Stück runter von der Klinik, die 50 Meter bis zum Wasser. Den Body-Mass-Index (BMI) 15 erreicht man beispielsweise, wenn man bei 1,65 Metern 41 Kilo wiegt. Darunter darf das Bett nicht verlassen werden, weil dem Herz bei Bewegung die Energie zum Schlagen fehlen könnte und die Gefahr besteht, dass Knochen brechen oder das Gehirn sich verkrampft, weil nicht genug Nährstoffe da sind.
Erst wenn das Gewicht ein paar Tage hält, dürfen sie runter zum See, die Mädchen von Station 1, Abteilung Essstörungen. Eine halbe Stunde lang, mit Begleitung. In die psychosomatische Abteilung der Argirov-Klinik am Starnberger See kommen Menschen, die sich an die Grenze zum Tod gehungert haben und es allein nicht mehr schaffen, wieder mit dem Essen anzufangen.
Bea wog 48 Kilo, als sie in die Klinik gebracht wurde. Sie war kurz zuvor zusammengeklappt und hatte bewusstlos im Klassenzimmer gelegen, bis der Notarzt kam, der für die Blutabnahme nicht mal mehr eine Ader fand, so vertrocknet war sie. Bea, 15, trägt die gelockten Haare locker zusammengebunden, ihren Körper erkennt man nicht unter der Kleidung. Beim Hungern, sagt sie, sei sie endlich einmal mit einer Sache richtig gut gewesen. Konsequenter als alle anderen. Kurz vor Weihnachten letzten Jahres hatte sie noch 65 Kilo gewogen und gedacht, »es müsse was passieren«. Sie begann mit einer Diät, es gab Salat und fettarme Produkte. Als ihr Gewicht nicht mehr weiter sank, verzichtete sie auf warmes Essen. Nahrungsaufnahme wurde für sie gleichbedeutend mit Schwäche. Dann gab es nur noch Obst, 1,5 Liter Wasser und Tee. Verzicht wurde zum Symbol für Stärke.
Die Magersucht war ihr treuester Begleiter
Am Ende aß sie ein paar Tage lang gar nichts, immerzu Kaugummi kauend. Hunger empfand sie nicht mehr, sagt sie, und auch sonst nicht viel. Sie hatte aufgehört zu lachen und musste manchmal im Unterricht plötzlich weinen. Als sie bewusstlos auf dem Boden lag, war ihr längst alles egal. Sie war abgetaucht in eine andere Welt, »weit weg in ein Nichts«, wo sie eine Idealfigur hatte und ohne Essen leben konnte. »Ich war wie weggebeamt«, sagt sie; gefangen von einer Krankheit, die ihr treuester Begleiter geworden war.
Morgens auf der Waage war sie da, als schmeichelnde Zahl, tagsüber, als kämpferische Freundin, mit der Bea über Schwächen siegte und die ihr am Abend Ziele vorgab, die sie erreichen konnte: 55 Kilo, 52, dann blieb die Periode aus. Bei 50 Kilo wünschte sie sich, dass nur ein einziges Mal die 49 auf der Waage erscheint. Bea fielen die Haare aus, ihre Nägel hörten auf zu wachsen. Als sie sich in der Schule schon nicht mehr konzentrieren konnte, setzte sie 47 Kilo als Marke. Auf dem Rücken beginnt ein feiner Flaum zu wachsen. Lanugohaare nennt man die Härchen, die sonst nur Föten bekommen, um sich im Mutterleib vor Schall und Druck zu schützen. Bevor Bea ihr Ziel erreicht, findet ihre Mutter, die bis dahin nichts von »der Schublade Essstörungen« wissen wollte, im Internet eine Liste mit Symptomen und bringt ihre Tochter ins Krankenhaus.
Anna wurde zur selben Zeit von ihrem Freund gebracht. Durch ihren weißen Sackpulli wirken die Konturen der Knochen beinahe weich. Die schwarzen Leggings dagegen verschonen den Blick nicht. Anna hat eines ihrer dürren Beine untergeschlagen, während sie von der Bulimie erzählt, die sie, 18 Jahre alt, auf 44 Kilo abmagern ließ. Sie habe nie gelernt, richtig zu essen, sagt sie. In ihrer Familie hätten alle immer irgendwann irgendwas gegessen und der Vater erst der Mutter und später auch ihr Vorwürfe gemacht, weil die Figur nicht passte. Anna wollte passen. Sie aß weniger und spielte so viel Hockey, dass sie in die Bayernauswahl kam. Mit 14 bekam sie die ersten Komplimente von Jungs und hungerte weiter. Keiner bemerkte die Krankheit, weil sie log, und weil niemand so genau nachfragte. Ihr Hockeytrainer ließ sie schon nicht mehr spielen, wegen des schwachen Körpers, doch der Vater sah sie noch immer nicht gerne an. Als sie sich verliebt und mit ihrem Freund zu Abend isst, geht sie danach auf die Toilette und kotzt. Anna braucht nicht einmal einen Finger. Sie kann das Essen allein mit ihren Gedanken und ein paar Hüpfern hoch holen. »Ich wollte normal essen, aber ich kannte weder das Gefühl für Hunger noch das für Sattsein oder für normale Mengen.« Wenn sie abends alleine war oder Stress hatte, ließ sie der aufgestauten Gier freien Lauf, sie »fraß alles, was verboten ist«, sagt sie – und zählt dann Lebensmittel auf, die für andere ganz normal sind: Brot, Butter, Käse, Pizza. »Während ich aß, konnte ich über Verletzungen nachdenken, ohne dass sie zu nah an mich herankamen. Als ob das Essen mich schützte.« War der Kühlschrank leer, kam die Angst, dass »ich das nicht mehr rausbekomme«. Sie trank dann einen Liter Milch, damit es besser flutschte, und am nächsten Tag schmerzte ihr der Hals von den sauren Magensäften.
»Es geht immer um einen innerseelischen Konflikt, der nach außen verlagert und über Essen reguliert wird«, sagt Sabine Dornhofer, Oberärztin der Psychosomatischen Abteilung in der Argirov-Klinik. Wenn die Mädchen ihre Gefühle weg- und sich selbst in einen Dämmerzustand hungern, dann ist das ihre Form, mit Problemen umzugehen. »Viele der Mädchen sind Opfer sexuellen Missbrauchs, aber auch andere Verletzungen oder Ängste können Ursachen sein: Der Wunsch, für immer Tochter zu bleiben beispielsweise, Flucht vor Erwartungen oder dem Frauwerden«, sagt Dornhofer. Die vermeintliche Kontrolle über den Körper beruhigt, wenn das Leben unberechenbar scheint, die strengen Regeln beim Essen geben Halt, in einer Freiheit, die manche überfordert.
Es sind die pflichtbewussten, leistungsorientierten Mädchen, die in ihrem Körper ein Reservat finden, wo allein sie die Gesetze bestimmen. Diese Macht, diese Droge wieder herzugeben, fällt so schwer, dass selbst heftigste körperliche Warnsignale übergangen werden. Bei manchen Patientinnen sei sogar das Gehirn durch Ernährungsmangel rückgebildet, sagt Dornhofer. Keine andere psychische Krankheit ist so tödlich wie die Anorexia nervosa. Etwa jeder Zehnte überlebt die Magersucht oder deren Folgen nicht. Die Betroffenen sterben, weil ihre Niere die Schadstoffe nicht mehr aus dem Körper filtern kann, wenn alle Energie für Gehirn und Herz gebraucht wird, oder an Infektionen, weil die Abwehr des Körpers geschwächt ist, oder weil ihr Herz zu schwach zum Schlagen ist. Ein Großteil ist schon vorher so verzweifelt, dass er sich umbringt.
Die Patienten, die an den See runter dürfen, haben das erste »Auffüttern«, oft mit flüssiger Zusatznahrung aus Tetrapaks, hinter sich. Es ist ein gefährlicher Moment: Mit jedem zusätzlichen Kilo ist der Körper ein Stückchen mehr aus seiner Betäubung aufgewacht und plötzlich kommen Ängste und Verletzungen hoch, die oft monatelang verschüttet waren. Neben dem Essen müssen die Mädchen daher vor allem neue Formen lernen, mit ihren Gefühlen umzugehen. Der Klinikalltag besteht aus Therapien, Pausen und Essen, streng geplant im 15-Minuten-Takt.
Die Patienten malen und bewegen sich gemeinsam, loten Schamgrenzen aus, Ekel und Angst. Alle zwei Stunden gibt es etwas zu essen, ohne Kalorienangabe, in der Hoffnung, dass es irgendwann normal wird, einmal am Tag wird gewogen. Nur etwa die Hälfte der an Magersucht Erkrankten schafft es, vollständig gesund zu werden, meist ist es ein langer Weg. Unter den Bulimikerinnen ist die Heilung noch seltener. Je früher die Symptome behandelt werden, desto besser. Mitarbeiter des Therapie-Centrums für Essstörungen (TCE) in München beispielsweise bieten darum nicht nur Hilfe für Betroffene, sie gehen auch in Schulklassen, um aufzuklären – immer zusammen mit ehemaligen Patientinnen, weil keiner die Grauen der Krankheit so genau kennt und vermitteln kann wie diese.
Sophia und Carolin waren schon mehrmals in der Klinik, seit einem Jahr wohnen sie in einer therapeutischen Wohngruppe, um zu üben, das Gelernte im Alltag umzusetzen. Magersüchtige, Bulimikerinnen und Adipöse leben in der Münchner Einrichtung zusammen, neben Schule oder Arbeit besuchen sie ambulante Therapien. Carolin, 17, sitzt neben Sophia und auch mit mehr räumlichem Abstand zu der Magersüchtigen würde man sie als dick bezeichnen; trotz der 40 Kilo, die sie durch die Therapien der letzten Monate abgenommen hat. Sie habe in ihrem Leben nie ein anderes Glück kennengelernt, als das, was sie fühlte, wenn sie alleine in ihrem Zimmer aß, sagt sie. Sophia, 18, hatte früh angefangen, Fotos von Models aus Zeitungen auszuschneiden und sie sich an die Zimmerwand zu kleben: kleine Quadrate, wie Fenster in ein anderes Leben. Als die beiden zum ersten Mal alleine in den Supermarkt geschickt wurden, um für die Gruppe einzukaufen, fühlten sie sich wie im falschen Film. Doch die Gemeinschaft tue ihnen gut, sagen sie, und manchmal passiere es sogar schon, dass sie ganz normal über Jungs, Musik und Schule reden – ohne die Gedanken ans Essen im Hinterkopf. Sie achten aufeinander, denn keiner durchschaut die Tricks, versteht die Ängste so gut wie sie selbst.
* alle Namen von der Redaktion geändert
Katrin Zeug (29) ist freie Autorin in Berlin. Sie arbeitet neben fluter auch für den Wissenschaftsteil der »Zeit« und für »Spiegel Online«.