Rund zwei Jahre ist der Grünen-Politiker Jürgen Trittin schon Bundesumweltminister, als am 29. Januar 2001 ein unscharfes Foto in der „Bild“ erscheint. Es zeigt Trittin als Teilnehmer einer Straßendemonstration. Darunter prangt in fetten Lettern die Frage „Was machte Minister Trittin auf dieser Gewalt-Demo?“. Zum Zeitpunkt der Demonstration 1994 war Trittin Landtagsabgeordneter in Niedersachsen und ging als solcher gelegentlich noch auf Demonstrationen.
Überhaupt darf in Deutschland jeder gewaltfrei demonstrieren, auch ein Minister. Doch nicht nur die Frage in der Schlagzeile, auch die aufs Foto montierten beschrifteten Pfeile und die ganze Präsentationsform des Bildes wollen auf etwas hinaus, das das Zeug zum Skandal hat: Dieser vermummte Mann im Hintergrund links und der Demonstrant rechts, tragen die Waffen? Beteiligte sich da ein heutiger Bundesminister an einer gewalttätigen politischen Aktion? Mit dieser Veröffentlichung in der größten Zeitung des Axel-Springer-Verlags ist die nächste Eskalationsstufe einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Regierungspolitiker erreicht, die schon seit längerem von den Medien und der parlamentarischen Opposition befeuert wurde.
Am selben Tag erscheint im Magazin „Focus“ das Originalfoto: Es handelt sich um ein Standbild aus einem Fernsehbeitrag des Senders Sat.1, auf dem eindeutig zu erkennen ist: Der vermummte Mann links von Trittin trägt keineswegs, wie von „Bild“ suggeriert, einen Bolzenschneider, sondern Handschuhe und hält sich am Dachgepäckträger eines Kleinbusses fest. Der Demonstrant rechts hält keinen Schlagstock, sondern ein Seil in der Hand. Es erhärtet sich der Verdacht, dass „Bild“ das Foto manipuliert hat.
Die „Bild“-Zeitung sieht sich gezwungen, eine Richtigstellung zu drucken. Chefredakteur Kai Diekmann räumt ein: „Wir sind am Sonntag im Vorabexemplar von ‚Focus‘ auf das Foto gestoßen und haben es abgescannt, weil wir das Original nicht besorgen konnten. Die Ausdrucke, mit denen wir dann gearbeitet haben, waren Kopien von Kopien und entsprechend schlecht, so dass die Fortsetzung des Seils nicht erkennbar war.“
Das sorgt für einigen Wirbel und Empörung in der Öffentlichkeit. Denn Diekmann hat nur das Kopieren des Bildes und den dadurch verursachten Qualitätsverlust eingeräumt, nicht aber ein Beschneiden des Bildes, in dem Kritiker die eigentliche Verfälschung sehen. In der „Zeit“ erscheint im August 2005 ein Dossier mit dem Titel „Großmacht Springer“, in dem zu lesen ist: „Ist es Vorsatz, wenn ein Foto so beschnitten wird, dass ein Seil in der Hand von Jürgen Trittin als Schlagstock angesehen werden kann?“
Diekmann fordert daraufhin eine Gegendarstellung: Anstoß nimmt er aber nicht an der Behauptung, die „Bild“-Zeitung habe das Foto so beschnitten, dass es in der Hand Trittins wie ein Schlagstock aussah – was sachlich falsch war, weil Trittin selbst das Seil auf dem Foto gar nicht anfasst. Anstoß nimmt der „Bild“-Chefredakteur an der Behauptung, die „Bild“ habe das Seil durch Beschneiden des Fotos wie einen Schlagstock wirken lassen. Der Fehler von „Bild“ habe darauf beruht, so insistiert Diekmann, „dass allein aufgrund der schlechten Bildqualität eine verfälschende Bildunterschrift zugeordnet wurde“. Kurzum: Diekmann streitet eine Manipulation ab und versteht die Sache mit dem Trittin-Foto als einen Kopierfehler.
Die „Zeit“ indessen weigerte sich, diese Gegendarstellung zu drucken. Mit der Begründung, bei dem Trittin-Foto in der „Bild“ handele es sich zweifelsfrei um einen Ausschnitt des „Focus“-Fotos, auf dessen Original der „Schlagstock“ eindeutig als Seil zu erkennen ist. Und dieses Original hat der „Bild“-Zeitung vorgelegen. Sonst hätte sie davon ja keine Kopie anfertigen können.
Auch gegenüber der Pressekammer des Landgerichts Hamburg gibt Diekmann im August 2005 eine eidesstattliche Versicherung ab, in der er ausdrücklich einräumt, die Abbildung sei unzutreffend betextet worden, aber das Foto „ist in keiner Weise beschnitten worden“. Das Gericht verlangte daraufhin von der „Zeit“, den strittigen Seil-Satz aus der Online-Version des Dossiers zu tilgen. Doch nachdem die Wochenzeitung Widerspruch angekündigt hatte, nahm Diekmann seinen Antrag wieder zurück.
Tobias Kruse reist seit vielen Jahren mit der Kamera durch die Welt und ist Mitglied der Fotoagentur Ostkreuz. Aus eigener Erfahrung kann er sagen, dass es in der Praxis ziemlich schwer ist, die Grenze zwischen Dokumentation und Inszenierung zu ziehen – denn oft verändert allein die Anwesenheit des Fotografen die Wirklichkeit.