Bei dem Deal stört am Ende nur noch das schrillende Handy der Schöffin. Dann geht alles ganz schnell im Saal L 117 des Düsseldorfer Landgerichts. Nach 17 Verhandlungstagen beantragt die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Strafverfahrens gegen Eckhard Sch. – gegen die Zahlung einer Geldauflage in Höhe von einer Million Euro. Der Angeklagte soll als Chef der Düsseldorfer Firma "Lotto Team" jahrelang eine illegale Lotterie betrieben und dabei mindestens 30 Millionen Euro an Steuern hinterzogen haben.Der Fall ist juristisch komplex und kompliziert. Gleich vier Anwälte verteidigen den Angeklagten.Eine zeitraubende Beweisaufnahme mit zahlreichen Zeugen und Sachverständigen droht. Jetzt wollen alle Beteiligten kurzen Prozess machen. Hinter den Kulissen sind sich Ankläger und Verteidiger längst einig geworden.Es geht nur noch um den Preis.
Der Bochumer Strafrechtsprofessor Klaus Bernsmann, ein Hochkaräter in der vierköpfigen Verteidigerriege, greift das Eine-Million-Angebot der Staatsanwaltschaft auf: "Wenn wir uns in der Mitte begegnen könnten,wäre das die absolute Schmerzgrenze,die machbar ist." Sein Mandant, von der Boulevardpresse als "Lotterie-König" gefeiert, sei derzeit nicht sehr solvent,barmt Bernsmann. Die Privatbank,bei der ein Großteil der Tippgelder gebunkert wurden,sei in Konkurs gegangen, Millionensummen seien dadurch verbrannt worden. Er bitte deshalb bei der Geldauflage darum, diese in sechs Monatsraten abstottern zu können.Wirklich arm ist der Angeklagte wohl nicht. Als Sch. wegen der Anklagevorwürfe in Untersuchungshaft saß, hatten die Fahnder bei ihm immerhin 200 Millionen Euro beschlagnahmt. Die Richter gaben das Geld bald wieder für den Angeklagten frei.
Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Nur wenige Minuten. Dann verkündet die Richterin vor den leeren Zuschauerbänken eine Entscheidung, die sie selbst "kurz und schmerzlos" nennt: Der Angeklagte müsse 750 000 Euro in sechs Raten zu 125 000 Euro binnen sechs Monaten an die Staatskasse zahlen. Danach werde das gegen ihn laufende Strafverfahren wegen "unerlaubter Lotterie-Veranstaltung" und Steuerhinterziehung nach Paragraf 153a der Strafprozessordnung eingestellt. Mit diesem Geld sind nach Aussagen der Richterin "gerade mal die Verfahrenskosten gedeckt". Der Angeklagte Sch. verlässt das Gerichtsgebäude an diesem grauen Novembermorgen als freier Mann und ohne Vorstrafen.
"Vor dem Gesetz sind alle gleich – und die Reichen gleicher", lautet die Faustformel frustrierter Fahnder. Immer seltener bringen sie Wirtschaftskriminelle bis auf die Anklagebank oder gar ins Gefängnis. Zunehmend kaufen sich vermögende Angeklagte bei der Justiz frei – heute der Lotto-König, morgen die Mannesmann-Manager. "Paragraf 153a" heißt das Zauberwort. Nach dieser Vorschrift der Strafprozessordnung können laufende Strafverfahren dann eingestellt werden, wenn dem "die Schwere der Schuld" nicht entgegensteht.Zudem müssen die Auflagen, meist geht es um Geldzahlungen, geeignet sein, "das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen".Damit werde der Gerichtssaal "zum Markt, auf dem die Strafen ausgehandelt werden",kritisiert Heribert Prantl, Journalist und gelernter Staatsanwalt. Jeder profitiere davon: Das Geständnis erleichtere dem Richter die Arbeit, die milde Strafe dem Angeklagten das Leben. "Nur", wendet Prantl süffisant ein, "die Gerechtigkeit steht womöglich etwas dumm da, aber die ist eh nicht Verfahrensbeteiligte."
In dem Bochumer Universitätsbüro von Professor Bernsmann hängen die von ihm erkämpften Einstellungsbescheide in prominenten Strafverfahren wie Trophäen an einer Pinnwand.Manche Verfahren wurden gegen Geldzahlungen eingestellt, manche wegen "dem Fehlen hinreichenden Tatverdachts". Der 59-jährige Bernsmann gilt als Begabung auf seinem Gebiet. "Ich schreibe wenig und telefoniere viel", verrät der wortflinke Professor über seine Nebentätigkeit als Strafverteidiger.Bernsmann,der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs textsicher rezitiert wie andere Gedichte, inszeniert sich als juristischer Überzeugungstäter. Das macht Eindruck auf Staatsanwälte und Richter.
Bei den Ermittlungen gegen den früheren NRW-Finanzminister Heinz Schleußer (SPD) wegen Verdachts des Geheimnisverrats an Parteigenossen bei der Westdeutschen Landesbank (WestLB) überzeugte Bernsmann die Staatsanwälte in dem rekordverdächtigen Zeitraum zwischen Weihnachten und Neujahr von der Unschuld seines Man-danten. Als der ehemalige Präsident von Borussia Dortmund, Gerd Niebaum, selbst Anwalt von Beruf, wegen Kapitalanlagebetrugs in den Fokus der Fahnder geriet,rief er den renommierten Bochumer Strafrechtsprofessor zu Hilfe.Wenige Monate später war das Verfahren gegen Niebaum wegen "erwiesener Unschuld" eingestellt.
Derzeit bemüht sich Bernsmann, maßgebliche Funktionäre des FC Schalke 04 bei der Staatsanwaltschaft Essen rauszupauken. Gegen den Gelsenkirchener Fußball-Bundesligisten wird wegen des Verdachts der Bilanzfälschung ermittelt. Die Schalker sollen das abbruchreife Parkstadion,das sie von der Stadt Gelsenkirchen für einen symbolischen Euro erworben hatten, wenig später mit einem Wert von rund 16 Millionen Euro auf der Habenseite eingebucht haben. Bernsmann strickt offenbar an einer Einstellung des laufenden Strafermittlungs-Verfahrens nach Paragraf 153a. Neben Steuernachzahlungen für den Traditionsverein würden für die beschuldigten Schalke-Funktionäre vermutlich hohe Geldauflagen fällig.Dafür blieben ihnen eine Anklage und Bestrafung erspart.
Im Vorlesungssaal HGC 30 der Bochumer Ruhr-Universität doziert Professor Bernsmann über Eigentums- und Vermögensdelikte. Die Jurastudenten im dritten Semester sollen einen Rechtsfall knacken: A. vergisst seine Geldbörse mit 250 Euro an der Kasse. Kunde C.bemerkt das liegen gebliebene Portemonnaie und will es der Kassiererin D. überreichen. Da meldet sich der Kunde B., ihm gehöre die Geldbörse,und lässt sich diese von C. aushändigen. "Das ist so ’n Klassiker", ruft Bernsmann in den Hörsaal. Die Studenten sollen Tatbestandsmerkmale für Diebstahl, Betrug und Unterschlagung nennen. Für den Professor mit der grau melierten Beatlesfrisur "absoluter Kinderkram". Nicht für seine Studenten. Die rätseln und ringen mit dem Recht. Schnaufend tigert Bernsmann an der Tafel auf und ab.Er wirkt genervt.Ist endlich eine Etappe bei der juristischen Lösung des Geldbörsenfalles geschafft, stößt Bernsmann erleichtert ein "Puh" oder "Huh" hervor. Im Gerichtssaal läuft es in der Regel leichter für den Strafrechtsprofessor. Wie würde er in dem Geldbörsenfall als Anwalt des Beschuldigten B.reagieren? "Natürlich Einstellung nach 153a",antwortet Bernsmann routiniert auf dem Weg vom Hörsaal in sein Büro.
Grau ist alle Strafrechtstheorie. "Was wir hier machen,ist doch Feldhockey", beschreibt der Professor seine Vorlesungen. In der juristischen Alltagspraxis aber werde "Eishockey gespielt" – mit beinharten Zweikämpfen, brutalen Fouls und vielen Nickeligkeiten. Im Sport ist Bernsman ebenso zu Hause wie in der Juristerei. Fünf Jahre lang trainierte er zwischen 1975 und 1980 die Handball-Damen des UTG Witten in der Bundesliga. Dreimal war Bernsmann Deutscher Judo-Meister – im Leichtgewicht.Unter den bundesdeutschen Strafrechtlern zählt der bissige Kämpfertyp längst zu den Schwergewichten.
Bernsmann stammt aus dem Arbeitermilieu im Ruhrgebiet.Nach vier Generationen war er der erste Akademiker in seiner Familie. Seine Eltern mussten sich das Schulgeld vom Munde absparen. "Ich habe lange den verschüchterten Proleten gegeben." Als Student war er politisch links.Eher "aus Ratlosigkeit" habe er Mitte der Sechzigerjahre sein Jurastudium begonnen,"nicht wegen irgendeines Gerechtigkeitsfaibles".Während seines Studiums mischte er in undogmatischen linken Anwaltskollektiven als Ghostwriter mit, machte er manche Sinnkrise durch. Selbst heute, als hochbestallter Strafrechtsprofessor, glaubt er nicht an Gerechtigkeit durch das Recht.Allzu viel sei "politische Symbolik", wie etwa der neu geschaffene Straftatbestand für Graffiti-Schmierereien.
Im Laufe der Zeit hat Bernsmann eine pragmatische Haltung zu Recht und Gesetz entwickelt. Dazu gehört nicht zuletzt der Deal im Strafprozess.Eine Verständigung zwischen Angeklagtem, Staatsanwaltschaft und Richtern beweise,sagt Bernsmann,"dass man sich im Gerichtssaal nicht anschreien muss, dass man sich einigen und Rechtsfrieden herstellen kann". Ihm missfällt die gesellschaftliche Neigung sehr,bei Strafvergehen gestandener Wirtschaftsführer "unbedingt nach dem Knast" zu rufen. "Man will die Großen demütigen." Dagegen müsse es in Strafverfahren darauf ankommen, dass Kriminalität aufgeklärt,transparent gemacht "und der entstandene Schaden" beglichen werde,verlangt Bernsmann.
Und das Strafrecht als Abschreckungs- und Vorbeugungsinstrument? Bernsmann bleibt skeptisch. Gefängnisse seien häufig Kaderschmieden für Kriminelle. Skandalöse Zustände in Jugendhaftanstalten,wie sie im November dieses Jahres nach dem Gefängnis nach dem Gefängnismord an einem 20-jährigen Häftling in Siegburg serienweise aufgedeckt worden seien, hält der Bochumer Professor für "verfassungswidrig". Da werde permanent gegen die grundgesetzlich garantierte "Würde des Menschen" verstoßen.
In der Alltagsrealität sieht Bernsmann die Bundesrepublik von einem gerechten Straftrechtssystem noch weit entfernt, jedenfalls sei es nichts für die Ewigkeit. "Vielleicht ist das eine notwendige Durchgangsstation",sagt der Rechtsgelehrte. "Fünf Milliarden Jahre ist die Sonne alt,fünf Milliarden Jahre hat sie noch vor sich. Die Ewigkeit ist noch lang." Dass es derzeit arg ungerecht zugeht im Justizapparat, dafür führt Bernsmann – "Ich weiß das klingt zynisch" – seine eigene Arbeit als Strafverteidiger an. "Das Gesetz trifft nur die Unterschicht, weil ich die Großen doch raushaue."
DER PARAGRAF 153a
In etwa 90 Prozent aller Wirtschaftsund Steuerstrafverfahren kommt es nach Darstellung des Frankfurter Strafverteidigers Eckhard Hild zu einem Deal. Wenn ein von der Staatsanwaltschaft verfolgter Mandant zu ihm komme,frage er ihn routinemäßig,ob er "eine juristische oder kaufmännische Lösung für seinen Fall" wünsche.
Das Zauberwort heißt unter Juristen "Paragraf 153a". Dieser Paragraf der Strafprozessordnung sieht vor, dass die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren bei einer Geldauflage für den Beschuldigten einstellen kann, wenn dem weder "die Schwere der Schuld" noch "das öffentliche Interesse" entgegensteht. Kritiker sehen darin eine moderne Form des Ablasshandels. In der Praxis laufe dies so, berichtet Anwalt Hild: "Staatsanwälte, Richter und Verteidiger treffen sich zu einem Moment X, sei es vor oder nach Beginn eines Prozesses. Dann schnüre man ein Paket: Welche Vorwürfe gesteht der Angeklagte, welche Anklagepunkte lässt die Staatsanwaltschaft fallen,wie viel kostet der Deal,wer stellt den Antrag auf Einstellung?" Der eigentliche Strafprozess ist dann, laut Hild, "nur noch eine Schauveranstaltung".
Konzipiert wurde die Verfahrenseinstellung gegen eine Geldauflage ursprünglich für Massendelikte von geringer Schuld. Bei den meisten der jährlich etwa 300 000 Einstellungen handelt es sich tatsächlich um Kleinkriminalität wie Ladendiebstahl oder Verkehrsdelikte. Immer häufiger aber suchen Staatsanwälte und Verteidiger bei komplexen,heiklen Großverfahren den Ausweg nach 153a – wie jüngst im Mannesmann-Prozess.Für den Frankfurter Strafrechtler Wolfgang Naucke hat das "mit Juristerei gar nichts mehr zu tun". Er hält die im Gesetz für die Einstellung nach Paragraf 153a formulierten Voraussetzungen für so vage, dass diese Strafrechtsvorschrift "verfassungswidrig" sei.
Hinzu kommt ein Ungleichgewicht bei den Ermittlungsergebnissen.Bei den insgesamt 11 705 Wirtschaftsstrafverfahren in Nordrhein-Westfalen im Jahre 2005 wurde lediglich in 844 Fällen Anklage erhoben – das sind etwa 7,5 Prozent. In 721 Fällen wurden die Verfahren nach Paragraf 153a gegen Geldauflagen wieder eingestellt. In mehr als 80 Prozent aller Wirtschaftsstrafverfahren kam es weder zu einer Anklage noch zu einer Einstellung gegen Auflagen. Bei allen übrigen Strafdelikten wurde dagegen in einem Viertel (24,7 Prozent) Anklage erhoben, 4,8 Prozent der Verfahren wurden nach 153a eingestellt. Johannes Nitschmann