Herr Bolz, bedeutet Individualität, dass man ein Alleinstellungsmerkmal sucht, um sich abzugrenzen?
Ja, das wäre der Traum. Das Interessante ist, dass der Begriff von Individualität heute das Gegenteil dessen markiert, was man Anfang des 19. Jahrhunderts darunter verstand. Damals war die Vorstellung,dass der Mensch das gesellschaftlich Allgemeine in seiner Individualität spiegelt.Heute will jeder sein,wie kein anderer ist,etwas haben,was kein anderer hat.
Warum ist das so?
Ich halte Langeweile für den ausschlaggebenden Faktor. Man kommt gar nicht auf solche Gedanken, wenn man zu tun hat und von seiner Arbeit absorbiert ist.In Amerika ist der Satz "I want to make a difference" sehr populär.Aber da bedeutet er:Ich tue etwas,ich greife irgendwo ein, ich engagiere mich. In Deutschland suchen wir den Unterschied darin,uns voneinander unterscheiden zu wollen.Man tut nichts,man unternimmt nichts, man nimmt es als ein Designproblem. Es ist die eigentliche Krux,dass wir es nicht schaffen, diesen Unterschied auf der Ebene der Leistung und der Arbeit anzustreben.
Unsere Gesellschaft bietet sehr viele Möglichkeiten. Nehmen wir die Mode: Warum sind Menschen trotzdem, gerade in Szenevierteln, uniform gekleidet?
Ob man das nun Dummheit oder Faulheit nennt: Es scheint, dass die Menschen unfreier sind denn je. Das gilt auch für die Gedankenfreiheit.Wir haben zwar formal,wie nie zuvor in der Geschichte, die Möglichkeit zu denken, was wir wollen. Und diese Freiheit gilt auch für die Gestaltung des Lebens.Aber kaum jemand denkt anders. Es existiert ein unglaublicher Konformismus.
Lässt sich das ändern?
Ich bin da eher pessimistisch. Die Knechtschaft der Mode und der Mode des Denkens gegenüber ist eine freiwillige Knechtschaft. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass es sehr gemütlich und bequem ist zu denken,wie alle denken,sich zu kleiden,wie alle sich kleiden. Wenn man das noch mit dem Gefühl würzt,das sei alles wahnsinnig antibürgerlich, womöglich gar subversiv,ist das ein Konsumangebot, das kaum jemand ausschlagen kann.
Irgendwann kapituliert man also und kauft eine bestimmte Jeans-Marke, weil andere sie auch tragen.
Erstens das. Und was noch gefährlicher ist: Gerade in dem Versuch,die Jeans-Marke zu kaufen,die andere nicht tragen,lande ich bei einem Nischenanbieter,der gerade dabei ist, den nächsten Mainstream vorzubereiten.Underground ist nichts anderes als die kreative Maschine des nächsten Mainstreams.
Ist der Wunsch nach Individualität eine Frage des Alters?
Ja.Ich glaube,diese Sehnsucht ist ein Adoleszenzthema. Nur haben wir es mit dem großen Problem zu tun, dass die meisten Menschen gar nicht erwachsen werden. Also: Eine Verhaltensweise, die eigentlich in die Reifephase des Menschen gehört, wird beliebig bis ins Pensionsalter verlängert. Das ist der Kern des Problems.Es gibt eine weit verbreitete Unlust, erwachsen zu werden.
Wie jemand, der sich die Haare färbt und auf der Straße nach Geld fragt?
Wenn Sie in Großstädten wie Berlin in eine U-Bahn steigen, dann ist es der Normalfall, dass irgendjemand blaue, grüne oder rote Haare hat.Das ist eine verzweifelte Situation für alle, die damit etwas erreichen wollen. Denn sie stellen fest, dass sie selbst mit dem lautesten Schrei – "Schaut mich an,ich existiere!" – im Grunde keine Aufmerksamkeit mehr erregen.Man zuckt nur mit den Schultern, man hat das alles schon so oft gesehen.
Und wenn man seinen Job kündigt und ein Jahr lang auf Weltreise geht?
Das hingegen ist interessant.Das ist eine Kopie des Verhaltens von Handwerkern des 18. und 19. Jahrhunderts. Damals ist man ausgezogen, um sich und die Welt kennenzulernen. Das könnte tatsächlich zu einer Veränderung des eigenen Lebens und der Selbsteinschätzung führen. Allein die Zeit, ein ganzes Jahr, könnte Reflexionsprozesse in Gang setzen, die einen Menschen ein wenig aus dem Konsumsystem hinauskatapultieren.
Kann man sich als Mensch überhaupt grundsätzlich ändern?
Ich denke schon, auch wenn dies nicht aus sich selbst heraus geschieht, sondern nur im Bezug auf andere Menschen.Man ändert sich zum Beispiel radikal,wenn man heiratet oder Kinder bekommt. Das gilt auch für den Fall eines Jobwechsels.Insofern gibt es ganz massive Möglichkeiten,in den Gang des eigenen Lebens einzugreifen.Aber es lässt sich nicht steuern, wohin der Weg dann führt. Das ist eines der großen Risiken des Lebens – und daran zeigt sich, ob Menschen tatsächlich Mut zur Individualität haben.