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„Emmie möchte kein Mitleid“

In „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“ findet die Comiczeichnerin Barbara Yelin eine Erzählsprache für das Unsagbare: den Holocaust und was es bedeutet, zu überleben

Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung

fluter.de: Frau Yelin, Ihre Graphic Novel erzählt die Lebensgeschichte der Shoah-Überlebenden Emmie Arbel. Um dieses Buch zu machen, haben Sie sich vier Jahre lang mit Arbel getroffen und Gespräche geführt. Was haben Sie in der Zeit über sie gelernt?

Barbara Yelin: Emmie wählt ihre Worte mit Bedacht. Ihr Humor ist trocken. In der Begegnung ist sie sehr präsent. Und Emmie lässt einen immer wissen, was sie will und was sie nicht will.

Arbel wurde 1937 in Den Haag geboren und mit ihrer jüdischen Familie 1942 von den Nazis deportiert. Sie überlebte als Kind unter anderem die Konzentrationslager Ravensbrück und Bergen-Belsen. Ihre Eltern und Großeltern wurden im Holocaust ermordet. Ihre Graphic Novel ist ein Zeitdokument, das von Verlust und Trauma erzählt.

Emmie selbst hat das Wort „traumatisch“ nicht verwendet. Doch die schweren Gewalterfahrungen und die Erinnerungen daran wirken bis heute in ihr nach. Sie sind Teil ihres Lebens. Aber Emmie möchte kein Mitleid. Sie will einfach als ganze Person wahrgenommen werden.

Im Jahr 1949 geht Emmie Arbel mit ihrer Pflegefamilie nach Israel. Was ihr im Holocaust widerfahren ist, will dort jahrelang niemand wissen. Auch mit ihrem Mann hat sie später kaum darüber gesprochen. Das hat mich überrascht.

Man weiß aus Deutschland, dem Land der Täter, dass die Menschen nach dem Holocaust sehr lange geschwiegen haben – aus kollektivem Schulderleben und Verdrängung. Das konnte ich auch durch meine anderen Buchprojekte über die NS-Zeit nachvollziehen. Allen voran „Irmina“, eine Geschichte über Mitläufertum im Nationalsozialismus. Aber eben nicht nur in Deutschland, sondern auch in Israel herrschte nach dem Holocaust eine große Sprachlosigkeit. Aus anderen Gründen. Es gab diese Schwere von dem, was passiert war. Viele Überlebende haben ein Sprechen über die traumatischen Erlebnisse nicht ertragen. Die Gesellschaft wollte nicht in der Vergangenheit bleiben, sondern nach vorne schauen, in eine bessere Zukunft. So auch Emmie. Die Erinnerungen an die Gewalterfahrungen, denen sie ausgesetzt war, sind aufs Engste mit einem Gefühl der Demütigung, der Entmenschlichung verbunden. „Humiliation“ nannte es Emmie. Das Sprechen darüber war fast unmöglich. Erst in der Mitte ihres Lebens entstand eine Dringlichkeit zu erinnern. Sie sagte: „Ich musste sprechen, sonst wäre ich explodiert.“

Es gab noch eine andere Gewalterfahrung, über die Arbel lange schwieg: Ihr Pflegevater Leo, der sie nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager in seine Obhut genommen hatte, vergewaltigte sie.

Von diesem Missbrauch konnte sie sehr lange niemandem erzählen, sonst hätte sie womöglich ihre neue Familie verloren. Für die anderen war Leo der große Held. Schließlich hatte er 15 Pflegekinder aufgenommen und selbst den Holocaust überlebt. Diese Verworrenheit von „Gut“ und „Böse“ zu erzählen, das war sehr schwierig für mich. Emmie hat über den Missbrauch erst geredet, als Leo schon tot war. Zu verstehen, wie die verschiedenen Gewalterfahrungen miteinander verknüpft sind und wie sie die Sprachlosigkeit verstärkt haben, war ein Lernprozess für mich.

Emmie Arbel
 

Wie lief Ihre Zusammenarbeit für das Buch ab?

Es ging darum, zusammen herauszufinden, wann wir worüber sprechen können, wie tief und wie oft. Aber ich bin ja nicht ihre Therapeutin. Emmie hatte die Dinge für sich geregelt, bevor sie mit mir gesprochen hat.

Wie sind Sie genau vorgegangen, um Arbels Erinnerungen einzufangen?

Ich habe einfach Fragen gestellt. Als ich an den Szenen zu den Lagern arbeitete, fragte ich sie: War dir kalt? Wie viele Ebenen hatten die Stockbetten? Wo hast du geschlafen? Wie hat es gerochen? Über solche Fragen und die Zeichnungen konnten wir uns den Erinnerungen annähern und manche Szenen sehr präzise besprechen. Daneben waren die Berichte anderer Zeitzeug*innen wichtige Dokumente für mich. Dafür aber Bilder zu finden war keine leichte Aufgabe. Ich habe Skizzen angefertigt und sie relativ früh mit Emmie geteilt. Die Zeichnungen wurden zu einer gemeinsamen Sprache, zu einem Forschungswerkzeug. Das Buch hat sich dann schrittweise erweitert. Ich wollte ihre Erinnerungen zeigen – ohne irgendwas zu beschönigen, rauszulassen oder auszustellen. Daneben war mir aber auch sehr wichtig, Szenen aus Emmies Alltag zu finden. Leichte Momente.

Auch Sie kommen im Buch vor, oft in Gesprächssituationen mit Arbel. Inwiefern war das wichtig?

Es macht die Erzählperspektive transparent. Und es hat mir auch die Möglichkeit gegeben, Emmie zwischendrin ein bisschen Luft zu lassen. Was wir uns übrigens oft nicht klarmachen, ist, dass die meisten Bilder, die wir aus dem Holocaust kennen, aus der Täter*innen-Perspektive stammen. Fotografien aus der Perspektive der KZ-Häftlinge gibt es sehr wenige. Es gibt in der Gedenkstätte Ravensbrück aber ein Archiv von Zeichnungen, die von inhaftierten Frauen während und nach der Haft angefertigt wurden. Sie waren eine wichtige Quelle für mich.

Um sich dieser Perspektive anzunähern, setzen Sie sich im Buch auch mit dem Erinnern selbst auseinander. Was haben Sie darüber gelernt?

Beim Erinnern ist es ja so, dass die Vergangenheit immer in die Gegenwart hineinspielt. Das bildet auch mein Erzählweg ab. Erinnerungen kann man einfach nicht in einer Chronologie oder in einem Sachbericht einfangen. Paradoxerweise wurden Zeitzeug*innen jedoch lange nur ernst genommen, wenn sie lückenlos Zeugnis über das Erlebte ablegen konnten. Die Auseinandersetzung mit den Erinnerungen war da sehr sachlich. Kinder, die den Holocaust erlebt hatten, wurden in der Zuverlässigkeit ihrer Aussagen lange nicht ernst genommen

Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung

Auch der Buchtitel thematisiert das Erinnern. Wie ist er entstanden?

Es gab ein Gespräch zwischen uns über den Holocaust, da fragte ich: „Was ist die Farbe der Erinnerung?“ Und sie antwortete: „Schwarz.“ Emmie hatte einen Blackout, sobald sie früher vor Schulklassen über das Erlebte sprechen sollte. Die Erfahrung der Entmenschlichung wirkt wirklich wie eine Art schwarzes Loch.

Kann das Medium Comic ein neues Verständnis für traumatische Erinnerungen schaffen?

Zeichnungen erlauben ein ganz anderes Begreifen als reiner Text. In Emmies Erinnerungen sind gerade die Leerstellen prägnant. Sie würden in einem schriftlichen Protokoll verloren gehen. Ich habe sie bewusst in das Buch aufgenommen, denn ich finde, sie zeigen, dass es der Geschichte noch so viel Unsagbares, so viel Ungesagtes hinzuzufügen gibt.

Was hat es für Sie und für Arbel bedeutet, dieses Buch zu machen – auch mit Blick auf die rechtspopulistischen Tendenzen in Europa und der Welt?

Es ist Emmies größtes Anliegen, zu verhindern, dass so etwas Schreckliches wie der Holocaust noch einmal passiert. Sie ist stets besorgt über die aktuellen politischen Entwicklungen. Es ging darum, ihre Geschichte weiterzuerzählen für die Zeit, wenn die letzten Zeitzeug*innen nicht mehr da sind. Unser Buch ist für sie auch ein Akt der Rebellion und Selbstermächtigung. Wie Emmie es geschafft hat, trotz der Gewalterfahrungen nicht zu verhärten, sondern mit unglaublicher Kraft ihr Leben zu gestalten, ist bemerkenswert. Deshalb macht mir ihre Geschichte Hoffnung.

„Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“ ist bei Reprodukt erschienen. Das Buch entstand im Rahmen des Projekts „Visual Storytelling and Graphic Art in Genocide & Human Rights Education“ der Universität Victoria, Kanada.

Barbara Yelin, Jahrgang 1977, lebt in München und hat für ihre Comics und Illustrationen schon zahlreiche Preise gewonnen. 

Portrait: Martin Friedrich

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.